Am 5. November

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Der jüdische Österreicher Hermann Broch hielt sich 1945 notgedrungen in den USA auf. Aus Princeton schrieb er am 5. November jenes Jahres nach Europa:
„Ehe nicht der Mensch das Gefühl des Weltbürgertums bekommt, so daß der Jude nicht nur für den Juden, der Amerikaner nicht nur für den Amerikaner zu sorgen bereit ist (– dabei noch bestenfalls! –) wird es auf dem apokalyptischen Weg weitergehen.“ Brochs Überzeugung war: „jeder ist für jeden verantwortlich. Geschieht es nicht, so wird immer der Abschaum die Führung usurpieren können, allerdings nicht auf lange, denn das übrige wird von der atomic bomb besorgt werden.“

Der Mond als Schmutzfink

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Seit etlichen Jahren begleitet uns Der Kinder Kalender mit Gedichten und Bildern aus der ganzen Welt durch das Jahr. Jeden Montag eröffnet ein zweisprachiges Gedicht die Woche: Mal gereimt, mal nicht, manchmal heiter, manchmal nachdenklich, zum Auswendiglernen, zum Vor- und Selberlesen, mal übersetzt aus einer der Weltsprachen, mal aus einer kleinen, kaum gesprochenen Sprache. Originalillustrationen begleiten und rahmen die wöchentlichen Gedichte.

Viele der Blätter aus den vergangenen Editionen habe ich aufbewahrt, naturgemäß auch das (im Original französische) Mond-Gedicht:

Der Mond kehrt am Abend
als Schmutzfink zurück
Meine Großmutter schrubbt ihn
und hängt ihn am Fenster auf
Sie lässt das Wasser laufen
damit die Träume nur ja
sauber werden

Im Moritz Verlag ist die 2025er Edition soeben erschienen; gerne merke ich ein Exemplar um 25 Euro für Sie vor!

Das Gedicht

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Das leben ist so riskant
wie es verzweigt ist
baumwipfel und astspitze
sind bloß der anfang
dann kommt der westwind und beugt
und der nordwind und dreht
dann fleht der sonnenschein
und wir alle klettern hinauf
wir sind wie jede
grün wachsende maschinerie
fahren auf der tageslichtstrecke
ins dunkel

Es ist das Gedicht, welches mir das Auskommen als Buchhändler ermöglicht hat. Hier also eines von Grace Paley, deren von Mirko Bonné besorgte Sammlung Manchmal kommen und manchmal gehen (Schöffling, 20 Euro) nach wie vor in meinem Bestand sich befindet. 

Ein weiteres Exemplar, so bin ich mir sicher, schmückt die Bibliothek von Frau Baum*, einer Buchkäuferin, die ausschließlich Buchhandlungen besucht, welche über eine Lyrik-Abteilung verfügen. Eine meiner liebsten Kundinnen naturgemäß. 

Noch ist die Lyrik hier. Also freue ich mich auch auf Ihren Besuch! 

(* Name geändert)

Wir denken an Regen

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In Reclams August-Gedichten (7 Euro) stehen Verse des berühmten Ernst Jandl: da wartet einer auf den Sommer, und als der endlich da ist, erschöpft er einen. 

Nun es so weit ist, müssen wir erkennen, / daß unsere Städte nicht für den Sommer gebaut sind. / Auch sind wir zu lang nicht mehr auf Wiesen gelegen. / Auch ist die Sonne zu ruhig. Wir denken an Regen. 

Der August markiert nun einen Wendepunkt im Leben meiner Buchhandlung. Sie strahlt in alter Kraft und ist im Begriff ihrer Vergänglichkeit.

Gegen Ende des Monats wird das allgemeine Sortiment schließen.

Wie es anschließend weitergehen soll? Darüber werde ich Sie rechtzeitig informieren! 

Ein Bündel Grünzeug

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Vorhin kam ein Kunde herein und fragte, wo hier das Verbrechen zu finden sei. Da hatte ich Grund zu klagen über die Ladendiebstähle der letzten Zeit. 

Der sympathische Herr hatte allerdings die Absicht, einen ordentlichen Kriminalroman in dieser Buchhandlung zu erwerben, was ihm dann auch glückte. Seine Frau kaufte eine Postkarte mit einem Glücksschwein dazu, es war das letzte Exemplar. 

Keine Sorge: der grüne Glücksklee ist, was die Kunstpostkarten betrifft, immer noch vorrätig; der Künstler heißt Gerhard Glück. 

„Ein Bündel Grünzeug vertrieb mir die Diebe“, heißt es bei Oswald Egger, und da ich Ihnen mitteilen kann, dass ich der einzige Buchhändler weit und breit bin, welcher die „Gnomen und Amben“ des glückseligen Büchnerpreisträgers im Sortiment hat, so bin auch ich glücklich! 

Mit der Reife wird man immer jünger

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Eine Kundin hat das Bändchen von Hermann Hesse bestellt und ich blättere darin. 

„Im Altwerden“ heißt ein Gedicht, das so beginnt: „Jung sein und Gutes tun ist leicht, / Und von allem Gemeinen entfernt sein; / Aber lächeln, wenn schon der Herzschlag schleicht, / Das will gelernt sein.“ 

Das ist eine wundervolle Idee: mit dem Altwerden steigert sich das Gefühl, lebendig sein zu können, sodass es eine Freude ist! 

„Und wem’s gelingt, der ist nicht alt, / Der steht noch hell in Flammen“, heißt es bei Hesse weiter. Über das Wörtchen „noch“ allerdings wird nachzudenken sein. 

Ein klares Herz

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Möglicherweise handelt es sich bei dem „Demokratiefördergesetz“ um ein Stück konkreter Poesie; ich habe es nicht gelesen. 

Ich bin bei Botho Strauß (Die Fehler des Kopisten): „Nötiger denn je hat die Demokratie eine ihr abtrünnige Instanz, zu der sie eine lebhafte Spannung unterhielte. Also der geheime Körper des Widersachers, der magische Schlaf des Königs im Berg? Nein. Es genügt ein klares Herz. In seinem Herzen ist niemand Demokrat.“ 

Zu diesem 18. März sei zwar ausgerufen: Lang lebe die Republik! 

Ungerührt bleibe die herzliche Freiheit der Kunst!! 

Jenseits der vorliegenden Ausdrücke

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Klar ist: Der Journalismus kommt nicht umhin, eingeübter Phrasen sich zu bedienen, wenn er der Aufklärung dienstbar sein möchte. 

Verwirrend hingegen ist die Welt der Literatur: Zwischen Verklärung und Verdunklung, Verzweiflung und Verzückung sich bewegend, schöpft sie Unerhörtes aus der deutschen Sprache. 

Von Goethe steht geschrieben: 

„Leider bedenkt man nicht daß man in seiner Muttersprache oft ebenso dichtet als wenn es eine fremde wäre. Dieses ist aber also zu verstehen: wenn eine gewisse Epoche hindurch in einer Sprache viel geschrieben und in derselben von vorzüglichen Talenten der lebendig vorhandene Kreis menschlicher Gefühle und Schicksale durchgearbeitet worden, so ist der Zeitgehalt erschöpft und die Sprache zugleich, so daß nun jedes mäßige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.“ 

Literatur und Gelächter

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Es handele sich um Bände aus dem Nachlass eines Psychologen, erzählte der Flohmarkthändler, da meine Begeisterung zu bemerken war, als ich die Werke von John Berger und Lars Gustafsson, Fernando Pessoa und Georges Perec, Antonio Tabucchi und Alberto Manguel aus seinen Bananenkisten fischte. 

In einem Roman von Perec, den ich dann erwarb, fand ich den Zeitungsausschnitt einer ZEIT-Kolumne, in welcher Ulrich Greiner vor gut zwei Jahrzehnten bemerkte, dass gemessen an jenen derartiger Autoren der Weltliteratur die zeitgenössischen deutschen Romane oftmals blass wirkten: Unsere Autoren der jüngeren Generation erstreben Professionalität und erreichen sie oft. Sie schreiben besser, sie wollen Wirkung, sie beherrschen ihr Handwerk. Aber ihnen fehlt das Moment der Offenbarung, das sowohl den Leser wie den Autor bestürzend ereilt. Ihnen fehlt der Mut zur Tragik, aber auch der Witz, würde ich ergänzen. 

Ich schlug meinen Perec auf und las: „Nur die Dummköpfe sprechen noch ohne Gelächter vom MENSCHEN, vom TIER, vom CHAOS. Das lächerlichste Insekt braucht zum Überleben die gleiche, wenn nicht gar eine noch größere Energie als sie wer weiß noch welcher Flieger, Opfer der wahnsinnigen Fahrpläne, die eine Fluggesellschaft durchsetzte, der anzugehören er auch noch stolz war, aufwenden musste, um einen Berg zu überfliegen, der bei weitem nicht der höchste war.“ 

Die Wahrheit der Empfindung

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Auf den Tag vor einem halben Jahr ist Martin Walser gestorben. Die aktuelle Ausgabe von SINN UND FORM bringt eine Abschiedrede von Iris Radisch, in welcher sie den Dichter vom Bodensee als verkannten Denker würdigt, der die Größe gehabt habe, auf der Kleinheit des eigenen Ichs zu bestehen. Mit seinem Helden Kierkegaard verband ihn nämlich die Leidenschaft, nur solche Ideen anzuerkennen, die sich lebendig empfinden ließen; spekulative Gedankengebäude lehnte er ab. 

Martin Walsers Gedankenwelten konnten und wollten keine intellektuelle Diskurshoheit beanspruchen. Hier sprach jemand so, wie er empfand, hält Radisch fest und benennt in dieser Hinsicht Robert Walser und Franz Kafka als seine weiteren Leitsterne. 

Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Marin Walser war, das unterschlägt Iris Radisch, auch ein eifriger Nietzsche-Leser. Bei letzterem hieß es nämlich, dass der gefährlichste Feind der Wahrheit nicht die Lüge sei, sondern die Überzeugung!