„Plötzlich sah ich Moritz. Moritz war etwa fünfundzwanzig Zentimenter hoch, rothaarig, mit grüner Jacke und grünen Hosen. Er saß auf Rädern, so daß er sich, wenn man ihn an der Schnur zog, abwechselnd vorbeugte und zurücklehnte. Dabei schlenkerte er auch mit Armen und Beinen. Ich zog nicht an der Schnur; ich war auch durch eine gläserne Sperre von ihm getrennt, aber ich wußte es genau. Es war ein Wiedersehen. Moritz war meine eigene Puppe gewesen, zerbrochen, als ich vier Jahre alt war, jetzt aber völlig unbeschädigt.“
Der Wiener Dichter Erich Fried, der 1938 nach England emigrieren konnte, berichtet von einem Besuch der Lager-Gedenkstätte Auschwitz, den er im Frühjahr 1967 widerwillig unternahm; das Schicksal der ermordeten Juden ging im zu nahe. „Erst in Auschwitz, mehr als vierzig Jahre nach dem Zerbrechen meiner Puppe, sah ich ihren Doppelgänger.“
Es ist unbegreiflich: Sechs Millionen jüdische Menschen hat die Vernichtungsindustrie des deutschen Staates zu Tode gebracht.
Anschaulich wird es, wenn ich mir vorstelle: Sechs Millionen mal wurde ein Mensch getötet, und so könnte es das Nachbarskind gewesen sein, das aus seiner Wohnung gezerrt wurde mit nichts als den Kleidern am Leib und seiner Puppe in der Hand. Und womöglich hätte ich es gesehen, doch nicht wirklich hingesehen und wäre zum Mittäter geworden, da ich dem Unrecht nichts erwidern konnte.
Es ist zwar notwendig, in Deutschland heute darüber zu diskutieren, welche Lasten die Migration einer Gesellschaft auferlegt, die in Frieden leben möchte. Nicht recht finde ich es aber zu vergessen, dass es dabei um einzelne Menschen geht.