Ich lese in den hundert Jahre alten Tagebüchern von Virginia Woolf (1925-1930, S. Fischer, 39 Euro) und diese Lektüre schreckt mich auf.
Zwar steht da die Ahnung eines freundschaftlich gelingenden Lebens: Es „liegt darin, dass unser Schatz verborgen ist; oder richtiger, in so gewöhnlichen Dingen steckt, dass nichts an ihn rühren kann. Das heißt, wenn man es genießt, mit dem Bus nach Richmond zu fahren, in der Anlage zu sitzen & zu rauchen, die Briefe aus dem Briefkasten zu nehmen, einen Brief zu öffnen, sich nach dem Dinner hinzusetzen, nebeneinander, & zu fragen ‚Bist du in deinem Stall, Bruder?‘ – nun, was kann dieses Glück trüben?“
Dann aber doch die dauernde Sehnsucht nach einer „Entdeckung“, die das Leben umstürzen würde. Virginia Woolf verfügt über eine große Leidensfähigkeit und erklärt diese zum Erkenntnisinstrument. Sie fragt sich, ob es einen Menschen geben könne, der es ihr im Leiden gleichtun könnte, und begibt sich dann immer wieder in den Wahn, in ihrem Leiden das abstrakte Leid der Welt auf sich zu nehmen, um sich dem konkreten mitmenschlichen zu verschließen.
„Die Gewohnheit, Wände aufzuziehen, ist so verbreitet, dass sie uns wahrscheinlich vor dem Wahnsinn bewahrt. Wenn wir dieses Mittel nicht hätten, die Menschen von unserem Mitgefühl auszuschließen, würden wir uns, vielleicht, völlig auflösen. Getrenntheit wäre unmöglich. Aber die Wände gibt es im Übermaß; nicht das Mitgefühl.“
Eine verbreitete Sucht ist die Selbstsucht; in einem gewissen Sinn ist sie lebensdienlich. Kolonnen von Sachbüchern empfehlen „Selbstachtung“, „Selbstfürsorge“, „Selbstliebe“, „Selbstwirksamkeit“, um der Überforderung durch die großen Menschheitsprobleme zu begegnen. Die Blaumeisen auf der Birke vor meinem Fenster sind mir zur Freude da, also will ich mit ihnen von der Existenz der industriellen Vogelmast- und Vogeltötungsanstalten nichts wissen.
Die Sucht: Nicholson Baker, den ich mir auch nicht als einen glücklichen Menschen vorstelle, schreibt in seinem Erstlingswerk „Rolltreppe“ (Rowohlt, vergriffen): „In Maßen genossen, können Substanzen, die das Nervengewebe schädigen, wie etwa Alkohol, die Intelligenz fördern. Nach so einer Giftnacht wacht das Gehirn morgens auf und sagt: ‚Nein, es ist mir scheißegal, wer die Süßkartoffel in Nordamerika eingeführt hat.‘ Das Gefühl, dümmer zu sein als vorher, erweckt in einem dann schließlich Interesse an den wirklich komplexen Themen des Lebens: am Wandel, an der Erfahrung, an der Art, wie andere sich mit Enttäuschungen und beschränkter Begabung abgefunden haben. Einzelne Vorstellungen werden ebenso wie die Verbindungen, über die sie laufen, verletzt. Während sie zerlegt und erinnert, beschädigt, vergessen, und später wieder aufpoliert werden, werden sie auch subtiler, hierarchischer, mit halbverschütteten Einzelheiten untermauert. Wenn sie einen Schaden davontragen, regenerieren sie sich mehr als Teil des Ichs und weniger als Teil eines aufgepfropften Systems.“
Wir müssen die spezielle Färbung unserer Angst als lebensnotwendig anerkennen; wollten wir sie (durch die aufregende Medienproduktion befeuert) in dem überwältigenden Grau von Klimakrise, Krieg und Künstlicher Intelligenz aufheben, lähmten wir uns und würden handlungsunfähig.
Noch einmal Virginia Woolf: „Was ich vermisse ist Farbe, Energie, irgendeine klare Reflexion des Augenblicks. Ich sehe diese dicken Strümpfe & grauen haarigen Umhänge überall.“