Themen des Lebens

Von , am in angesagt

Ich lese in den hundert Jahre alten Tagebüchern von Virginia Woolf (1925-1930, S. Fischer, 39 Euro) und diese Lektüre schreckt mich auf.

Zwar steht da die Ahnung eines freundschaftlich gelingenden Lebens: Es „liegt darin, dass unser Schatz verborgen ist; oder richtiger, in so gewöhnlichen Dingen steckt, dass nichts an ihn rühren kann. Das heißt, wenn man es genießt, mit dem Bus nach Richmond zu fahren, in der Anlage zu sitzen & zu rauchen, die Briefe aus dem Briefkasten zu nehmen, einen Brief zu öffnen, sich nach dem Dinner hinzusetzen, nebeneinander, & zu fragen ‚Bist du in deinem Stall, Bruder?‘ – nun, was kann dieses Glück trüben?“

Dann aber doch die dauernde Sehnsucht nach einer „Entdeckung“, die das Leben umstürzen würde. Virginia Woolf verfügt über eine große Leidensfähigkeit und erklärt diese zum Erkenntnisinstrument. Sie fragt sich, ob es einen Menschen geben könne, der es ihr im Leiden gleichtun könnte, und begibt sich dann immer wieder in den Wahn, in ihrem Leiden das abstrakte Leid der Welt auf sich zu nehmen, um sich dem konkreten mitmenschlichen zu verschließen.

„Die Gewohnheit, Wände aufzuziehen, ist so verbreitet, dass sie uns wahrscheinlich vor dem Wahnsinn bewahrt. Wenn wir dieses Mittel nicht hätten, die Menschen von unserem Mitgefühl auszuschließen, würden wir uns, vielleicht, völlig auflösen. Getrenntheit wäre unmöglich. Aber die Wände gibt es im Übermaß; nicht das Mitgefühl.“

Eine verbreitete Sucht ist die Selbstsucht; in einem gewissen Sinn ist sie lebensdienlich. Kolonnen von Sachbüchern empfehlen „Selbstachtung“, „Selbstfürsorge“, „Selbstliebe“, „Selbstwirksamkeit“, um der Überforderung durch die großen Menschheitsprobleme zu begegnen. Die Blaumeisen auf der Birke vor meinem Fenster sind mir zur Freude da, also will ich mit ihnen von der Existenz der industriellen Vogelmast- und Vogeltötungsanstalten nichts wissen.

Die Sucht: Nicholson Baker, den ich mir auch nicht als einen glücklichen Menschen vorstelle, schreibt in seinem Erstlingswerk „Rolltreppe“ (Rowohlt, vergriffen): „In Maßen genossen, können Substanzen, die das Nervengewebe schädigen, wie etwa Alkohol, die Intelligenz fördern. Nach so einer Giftnacht wacht das Gehirn morgens auf und sagt: ‚Nein, es ist mir scheißegal, wer die Süßkartoffel in Nordamerika eingeführt hat.‘ Das Gefühl, dümmer zu sein als vorher, erweckt in einem dann schließlich Interesse an den wirklich komplexen Themen des Lebens: am Wandel, an der Erfahrung, an der Art, wie andere sich mit Enttäuschungen und beschränkter Begabung abgefunden haben. Einzelne Vorstellungen werden ebenso wie die Verbindungen, über die sie laufen, verletzt. Während sie zerlegt und erinnert, beschädigt, vergessen, und später wieder aufpoliert werden, werden sie auch subtiler, hierarchischer, mit halbverschütteten Einzelheiten untermauert. Wenn sie einen Schaden davontragen, regenerieren sie sich mehr als Teil des Ichs und weniger als Teil eines aufgepfropften Systems.“

Wir müssen die spezielle Färbung unserer Angst als lebensnotwendig anerkennen; wollten wir sie (durch die aufregende Medienproduktion befeuert) in dem überwältigenden Grau von Klimakrise, Krieg und Künstlicher Intelligenz aufheben, lähmten wir uns und würden handlungsunfähig.

Noch einmal Virginia Woolf: „Was ich vermisse ist Farbe, Energie, irgendeine klare Reflexion des Augenblicks. Ich sehe diese dicken Strümpfe & grauen haarigen Umhänge überall.“

Ich fotografiere nicht

Von , am in angesagt

Einen Fotoapparat besaß ich nie. Die Bilder, die sich mir einprägten, behielt ich im Kopf.

Die einzigen Urlaubsfotos, die ich (wie man im Zeitalter der „analogen“ Fotografie sagte:) schoss, kamen dadurch zustande, dass mich das eine und andere Menschenpaar an der Spanischen Treppe in Rom oder dem Wiener Parlament mit der Bitte ansprach, ich möge sie vor dem einen oder anderen Denkmalshintergrund ablichten.

Aus unserer Gegenwart ist die Fotografiererei nicht wegzudenken. Sehr viele Leute laufen ständig mit dem Smartphone herum, das ihnen als Erlebnisaufbewahrungsapparat dient; es ersetzt das wirkliche Leben. Diese Woche habe ich eine Gedenkfeier auf dem Friedhof besucht, die nach meinem Empfinden dadurch entwürdigt wurde, dass aus allen Ecken und Enden die Smartphones aufblitzten.

Nun sollen Menschen es immerhin zur Anklage bringen können, wenn sie sich durch andere belästigt fühlen, die bewusst das sexuell konnotierte Hinterteil im Visier ihrer Kamera haben. Das finde ich richtig. Allerdings ist es nicht das Gesäß, welches die Individualität des Menschen beschreibt, sondern sein Gesicht! Wenn ich nun aber dafür eintreten würde, dass mein Gesicht auf Fotografien, denen ich nicht zugestimmt habe, verpixelt werden müsste, stieße ich auf großes Unverständnis. Die „digitale“ Gesichtserkennung wird von allen möglichen kommerziellen Unternehmen eingesetzt. Viele denken, sie würden ihr Smartphone dadurch vor feindlichen Zugriffen schützen können; in Wirklichkeit verkaufen sie ihr Gesicht an alle möglichen Agenturen, von denen sie gar nichts wissen. Schließlich wird der Staat den Zugriff darauf verlangen, wenn er ein allgemeines Interesse vorschützen kann.

Meiner Ansicht nach sollte es erlaubt sein, sich das Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum herauszunehmen. „Zeige, oh, zeige dein Gesicht nicht / Sondern / Verwisch die Spuren!“ schreibt Bertolt Brecht.

Die deutsche Atomkraft und die griechische Post

Von , am in angesagt

Ein Erdbeben in Japan führte dazu, dass die deutsche Bundesregierung beschloss, den Betrieb technischer Anlagen mittels Atomkraft zu untersagen. Das ist nicht ganz richtig: Die Fortführung der atomaren Energiewirtschaft wurde zwar unterbunden, weiterhin gibt es in unserem Land jedoch staatlich betriebene Forschungsreaktoren und außerdem, von einem französischen Unternehmen angeführt, die kommerzielle Fertigung von Brennelementen zur Verwendung in Leichtwasserreaktoren, die in aller Welt gebraucht werden; das dazu erforderliche radioaktive Material wird immer noch aus Russland importiert, denn die Sanktionierung der russischen Atomindustrie vermochte die Regierung der Französischen Republik stets zu verhindern.

Gebraucht werden Atomkraftwerke fortan, um die riesigen Rechenzentren mit der Energie auszustatten, welche zum Ausschütten der Ergebnisse Künstlicher Intelligenz nötig ist. Ohne die KI-generierten Informationen, die regelkonformes Verhalten gewährleisten sollen, wären wir arm dran, behaupten die herrschenden Klassen in allen hochindustrialisierten Ländern der Welt.

Arm dran sind jetzt allerdings die Mitarbeiter der griechischen Post, die über Nacht entlassen worden sind; ein Fünftel der Filialen wird geschlossen, heißt es, da viele Tätigkeiten, welche die Staatsangestellten erledigten, nun höchsteffizient maschinell zu erfüllen seien. Die Schlangen der Senioren, die sich immer noch monatlich ihre Pensionen am Postschalter auszahlen ließen, würden zwar kurzfristig um zwanzig Prozent länger werden, mittelfristig löse sich dieses mathematische Problem aber auf biologische Weise.

Immer weniger Menschen „nutzten“ die Dienstleistungen der Postfilialen, heißt es auch hierzulande; was der Begriff des „Nutzers“ besagen soll, wäre eine eigene Analyse wert. Da ich noch über eine Menge von 85-Cent-Briefmarken verfüge, das Briefporto inzwischen aber 95 Cent beträgt, nahm ich mir vor, einen Schwung 10-Cent-Marken in einer Postfiliale zu erwerben; dort wurde mir gesagt, so etwas sei nur noch auf digitalem Wege möglich.

Für Pasolini

Von , am in angesagt

Heute denke ich an Pier Paolo Pasolini, der vor fünfzig Jahren ums Leben kam. In seinen Freibeuterschriften (Wagenbach, 13 Euro) wird die Spannkraft seines Denkens deutlich von der Betrachtung ökologischer Verwerfungen wie der Lichtverschmutzung bis zur Kritik der globalen Kulturindustrie, welche zur Auslöschung lokaler Sprachgemeinschaften führte. Womöglich würde Pasolini heutzutage als ein Populist wirken.

In einem Disput mit seinem Kollegen Italo Calvino, den ich immer wieder gerne zitiere, bezeichnete er es als „unselig“, was dieser schrieb: „Die jungen Faschisten von heute kenne ich nicht, und ich hoffe auch, dass ich keine Gelegenheit haben werde, sie kennenzulernen.“

Pasolini entgegnete: „Der Wunsch, nie junge Faschisten kennenlernen zu wollen, ist eine Lästerung, denn wir sollten, im Gegenteil, alles tun, um sie zu finden und mit ihnen zu sprechen. Sie sind nämlich nicht vom Schicksal auserwählte und prädestinierte Ausgeburten des BÖSEN: Sie sind nicht geboren worden, um später Faschisten zu werden. Niemand hat ihnen, als sie halbwegs erwachsen und im Stande waren, sich zu entscheiden  — aus Gründen und Zwängen heraus, die wir nicht kennen — rassistisch das Brandmal des Faschisten aufgedrückt. Was einen jungen Menschen zu dieser Entscheidung treibt, ist eine Mischung von grenzenloser Verzweiflung und Neurose, und vielleicht hätte eine kleine andersartige Erfahrung in seinem Leben, eine einzige simple Begegnung genügt, um sein Schicksal anders verlaufen zu lassen.“

Überall sind Menschen, die kämpfen und irren, lieben und hassen und von den Ideologien sich verderben lassen. Pasolini wünschte, dass der Mensch zu seinem (vielleicht animalischen) Ursprung zurückfinde, zur puren Lebendigkeit.

Verrückt

Von , am in angesagt

Einige Leute, also vor allem gut situierte, tragen die Sprechblase vor sich her, sie erwägten aus Deutschland auszuwandern, weil die Zustände hier immer unerträglicher würden. Denen entgegnete ich gerne, dass die Tendenz nach Rechts in unserem Parteiensystem immer noch weniger stark ausgeprägt sei als in allen unseren Nachbarländern (außer Luxemburg).

Das Auftreten der sogenannten AfD hat immerhin den Vorteil, dass man die Positionen der Rechten nun erkennen kann und sich davon distanzieren, wenn man sich mit dem durchaus mangelhaften demokratischen Rechtsstaat arrangiert hat.

Man sollte auch nicht davon absehen, die Verrücktheiten der herrschenden politischen Klasse zu kritisieren, weil durch diese Kritik die Rechten Wasser auf ihre Mühlen bekommen könnten. Verrückt ist nun die Geltung des neuen Tariftreuegesetztes: Dieses ist gut gemeint, denn Firmen, die Ihre Angestellten anständig behandeln, verdienen es durchaus, bei der Vergabe staatlicher Aufträge bevorzugt zu werden. Ausgerechnet für das militärische Beschaffungswesen gilt dieses Gesetz jedoch nicht! Damit wird doch suggeriert, dass das Gesetz die Auftragsvergabe verzögere; es kommt einem wie eine lästige Pflichtübung vor. Die Aufrüstung wird nun also forciert, da unser Vaterland mit dem russischen Imperialismus konfrontiert gilt; wenn Munitionsfabriken aus dem Boden gestampft und Bundeswehrkasernen in Schnellbauweise errichtet werden, stört die Tariftreue sehr.

Ich finde das verrückt. Aber vielleicht bin ich auch verrückt.

Wozu noch ein Buchladen?

Von , am in angesagt

Konrad Paul Liessmann schreibt: „Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als im digitalen Raum mit einem Wirklichkeitsvorbehalt zu arbeiten. In Zukunft wird es vielleicht notwendig sein, zuerst anzunehmen, dass alles, was uns über digitale Medien erreicht, fingiert sein kann.“ („Was nun?“, Zsolnay, 25 Euro). 

Das gute alte Radio, nämlich der Deutschlandfunk, hat dieser Tage ein Gespräch mit dem Leseforscher Christian Dawidowski gebracht, der als Professor an der Universität Osnabrück mit der Ausbildung von Lehramtsstudenten betraut ist. Er sagt: Die staatlich geförderte „Digitalisierung“ führt zu einer neuen Normalität; als Absolvent kommt man damit durch, Deutschlehrer zu werden, ohne überhaupt noch ein Buch durchgelesen zu haben. Zur Bewältigung wissenschaftlicher Literatur gibt es inzwischen Programmierungen, die diese in sogenannte Podcasts umwandeln. Man kann von keinem Deutsch Studierenden erwarten, einen „Wilhelm Meister“-Roman von Goethe oder gar Thomas Manns „Zauberberg“ gelesen zu haben. Alle Vorhaben, die Lesefähigkeit der Heranwachsenden zu fördern, sind auf ernüchternde Art versandet, sagt der Professor. 

Die Idee, dass das Buch eine Welt darstellt, die den Leser in seiner Selbstwahrnehmung erschüttert, ist tot. Der Nutzwert der Informationsaufnahme soll nun die Selbstoptimierung sein, und die von US-amerikanischen und chinesischen Unternehmungen betriebene „Digitalisierung“ ist das Vehikel dafür. Wir befinden uns im Zeitalter der Simulation reiner Gegenwart; was plötzlich auf dem Smartphone aufploppt, ist das Entscheidende und verdrängt alle historischen Hintergründe. 

Leider tun (um auf den Buchhandel zu kommen) die Buchkonzernverlage alles dazu, diesen Trend zu fördern. Ich will bloß erwähnen, dass inzwischen jedes Jahr die gleichen Bücher der Autorennamen Florian Illies und Richard David Precht und Ferdinand von Schirach als angebliche Neuheiten und mit den roten Bestselleraufklebern erscheinen. Derlei Machenschaften machen den Betrieb eines Buchladens überflüssig. 

Die wirklich kreativen Bücher hingegen verschwinden nach wenigen Monaten vom Markt. Vor fünf Jahren erschien die deutschsprachige Version der sensationellen Erkundungen des Klarinettisten David Rothenberg über die Nachtigallen in Berlin; ich habe noch ein Exemplar des vergriffenen Bandes hier (Rowohlt, 26 Euro). 

Darin äußert der Autor die folgenden Gedanken: „Je futuristischer wir werden, desto mehr überleben wir uns und schaffen etwas, das veraltet. Mir macht Sorgen, ob Technisches nicht zu schnell alt klingen wird. Wir mögen den Lärm. Wir ziehen ihn reinen Tönen vor, die unsere Synthesizer ebenfalls hinkriegen. Warum ist das so? Weil wir selber unrein sind. Nur unsere Gedanken bringen Kreise, Rechtecke und Dreiecke in Reinform hervor, die reale Welt jedoch tritt uns mit der Unschärfe des Ungleichmäßigen entgegen. Mit Makeln, mit Staub, Schmutz und Dreck. Eine Oberfläche ist niemals vollkommen rein, keine menschliche Stimme klingt wie genau eine andere. Deswegen müssen wir alle singen.“ 

John Updike schreibt in seinen tollen „Erinnerungen an die Zeit unter Ford“ (Rowohlt, 8,50 Euro): „Wahrlich, unser Leben ist wie das Universum: nichts geht verloren, alles erfährt nur eine Umwandlung auf der Rutschbahn zur Unordnung hin.“ Wenn der Mensch etwas tut, dann soll es schiefgehen können. 

Wohin des Wegs?

Von , am in vorgestellt

In meiner gestrigen Lesung in der ProCurand-Seniorenresidenz ging es um nichts weniger als die Glücksfähigkeit des Menschen und daher den Wunsch nach Lebendigkeit. Ich beschloss sie mit einer Anekdote aus Friedrich Torbergs „Erben der Tante Jolesch“.

„Sie spielt in einer kleinen östlichen Judengemeinde, genauer: auf der Landstraße, die zum nächsten größeren Ort führt. Dort wird jeden Donnerstag der Wochenmarkt abgehalten, und eines solchen Donnerstags strebt wieder einmal ein Handelsmann mit seinem Pferdewagen dem Markt zu, wie üblich in aller Herrgottsfrühe. Wie keineswegs üblich, sieht er plötzlich auf der staubigen Straße den Zadik dahinschreiten, den anerkannten Gerechten der Gemeinde. Sofort hält er sein Pferdchen an, beugt sich hinunter und fragt erstaunt:

‚Wohin des Wegs, Zadik?‘

‚Zum Wochenmarkt nach Pupidowka‘, lautet die Antwort.

Noch um einiges erstaunter kommt des Handelsmanns nächste Frage:

‚Wozu? Was sucht ein Zadik auf dem Wochenmarkt in Pupidowka?‘

Und es antwortet der Zadik:

‚Vielleicht find’t sich eine Fuhr‘ zurück.‘“

Am Montag, dem 8. Dezember, um 16 Uhr werde ich in die Bölschestraße 37 zurückkommen, um wieder etwas Erbauliches vorzulesen. Lassen Sie sich überraschen!

Mit Misstrauen betrachtet

Von , am in angesagt

Am heutigen Tag bringt die FAZ „das Lob aller, welche die vollständige Entkörperlichung – ‚Digitalisierung‘ – der Kulturgüter mit größtem Misstrauen betrachten“; der Anlass zu diesem Lob ist der Versuch einer Münchnerin, das Musik-CD-Archiv des Bayerischen Rundfunks vor seiner Vernichtung zu bewahren. 

Auch in der Causa Zettelkatalog gibt es Neues. Der Herr der Staatsbibliothek in Berlin hat es sich einfallen lassen, im kommenden Februar ein Symposium zu veranstalten: „Zettelkataloge. Unantastbares Kulturgut, aktiver Forschungsgegenstand oder substituierbares historisches Arbeitsmittel?“

Da ich mich in diesem Jahr mit den Schriften von Karl Kraus („Das Karl Kraus Lesebuch“, Wallstein, 34 Euro) beschäftigt habe, sehe ich mich genötigt, einige unsystematische Einwände gegen die Überschrift dieses Symposiums vorzubringen. 

Eine sprachliche Hervorbringung ist falsch, wenn sie überwältigend wirken will; da wird wortreich verdeckt, was eigentlich gesagt sein sollte. Man muss darangehen, als habe man eine Übersetzung aus einer Fremdsprache zu erstellen. 

„Unantastbares Kulturgut“: Anfassen verboten! Hier handelt es sich um den Versuch, eine Ansicht lächerlich zu machen, die historische Artefakte für würdig erachtet, aufbewahrt zu werden. „Kulturgut“ heißt, dass keinem Zeitgenossen heute noch etwas Vernünftiges damit anzufangen einfiele. Als vernünftig gilt, was effizient ist, also einen größtmöglichen Nutzen mit den geringsten Kosten an Raum und Zeit erbringt. 

„Aktiver Forschungsgegenstand“: Anfassen geboten! „Aktiv“ soll wohl den Gegensatz zu „unantastbar“ betonnen; dass etwas „passiv“ erforscht würde, davon hat man noch nicht gehört. 

„Substituierbares historisches Arbeitsmittel“: Anfassen überflüssig! Überall stehen nun sogenannte E-Scooter herum; da findet die Kulturtechnik des Zu-Fuß-Gehens keine Anwendung mehr. Man besucht ja auch kein Restaurant mehr, da mithilfe diverser Essenslieferdienste die Nahrungsbeschaffung und -Nahrungsaufnahme bequem auf der heimischen Couch erledigt werden kann (siehe Emanuele Coccia: „Das Zuhause“, Hanser, 22 Euro). Das Wort „historisch“ steht hier für „überkommen“. 

Was aber soll das Wort „oder“ bedeuten? Falls es sich bei den drei Schlagworten um Alternativen handelte, müsste das Wort „oder“ zweimal dastehen. Da es aber gar nicht um sich ausschließende Thesen geht, kann es entfallen. Ich denke an die Bibel, die ein Kulturgut ist und zugleich ein Forschungsgegenstand; zudem bleibt sie unersetzlich für den Pfarrer beim Verfassen seiner Sonntagspredigt. 

Wenn man einmal nicht weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis. Stellt man sich besonders dumm, wird es ein Symposium. 

Veränderungen

Von , am in angesagt

Mein Beitrag aus dem August, der sich der drohenden Vernichtung des Berliner Zettelkataloges widmete, hat ein großes Echo hervorgerufen. Ein Leser machte mir den Protestbrief zugänglich, den er an den Generaldirektor der Staatsbibliothek richtete. Darin steht der Satz: „In einer Zeit wie der gegenwärtigen, wo man jeden Tag kopfschüttelnd denkt ‚Das kann ja nicht wahr sein‘, ist jede Nachricht, die von destruktiver Energie, von Geschichtsblindheit und von Ignoranz kündet, ein weiterer Beitrag zur wachsenden Resignation.“ Eine Äußerung, die mich tief berührt! 

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann, dessen Vorlesungen über Kierkegaard vor über 30 Jahren in Wien sich mir einprägten, hat kürzlich dem SPIEGEL ein Interview gegeben. „Reagiert eine gealterte Gesellschaft sensibler auf Krisen?“ fragt der Redakteur, und der 72-jährige Liessmann antwortet: „Ja! Weil sie Veränderungen eher als Veränderungen wahrnimmt. Wer wie ich mit analogen Büchern aufgewachsen ist, auch mit der Recherche in Bibliotheken, der muss gerade die Erfahrung machen, dass ein zentraler Wert seines Lebens radikal entwertet wird. Ein 15-Jähriger hat wenig zu verlieren. Ich sehr viel.“ 

Liessmann hat gerade eine Philosophie der Krise veröffentlicht: „Was nun?“ (Zsolnay, 25 Euro) Er sagt: „Wenn uns die Dinge entgleiten, eröffnen sich Möglichkeiten.“ So könnten wir mit den Augen der Kinder die Welt betrachten in ihren Einzelheiten, um nicht zwangsläufig auf ihr Wirkenwollen uns einzulassen. 

In den „Minima Moralia“ von Theodor W. Adorno (Suhrkamp, 23 Euro) las ich: „Hebbel wirft in einer überraschenden Tagebuchnotiz die Frage auf, was ‚dem Leben den Zauber in späten Jahren‘ nähme: ‚Weil wir in all den bunten verzerrten Puppen die Walze sehen, die sie in Bewegung setzt, und weil eben darum die reizende Mannigfaltigkeit der Welt sich in eine hölzerne Einförmigkeit auflöst. Wenn einmal ein Kind die Seiltänzer singen, die Musikanten blasen, die Mädchen Wasser tragen, die Kutscher fahren sieht, so denkt es, das geschähe alles aus Lust und Freude an der Sache; es kann sich gar nicht vorstellen, dass diese Leute auch essen und trinken, zu Bett gehen und wieder aufstehen. Wir aber wissen, worum es geht.‘“ 

Wie wäre es dagegen, von dem Wissen um die Verwertbarkeit gesammelter Erfahrungen herabzusteigen und einen einzelnen Eindruck wahrzunehmen gleich einem Wunder? Lesen Sie dazu von Emanuele Coccia das „Sinnenleben“ (Hanser, 22 Euro)! 

Ein Kulturgutverlust

Von , am in angesagt

Ich bin kein Pessimist. Ich bin traurig.

Die Welt, in der ich mich lebendig bewegt habe, wird nun „entsorgt“. Wer seiner Intuition vertrauen wollte, gilt als Störfaktor oder sogar Reaktionär.

Der Generaldirektor der Berliner Staatsbibliothek, die zum sogenannten „Preußischen Kulturbesitz“ gehört, hat soeben angekündigt, den überlieferten Zettelkatalog zu vernichten; die Müllcontainer seien schon bestellt. Es müssen also gar nicht erst die Russen kommen, um deutsches Kulturgut zu ruinieren.

Warum gehört diese Nachricht hierher? Weil dieser Zettelkatalog seit einigen Jahren in dem Depot der Staatsbibliothek in unserem Ort Friedrichshagen aufbewahrt wird.

Es gibt eine originelle intellektuelle Leistung in meinem Leben, an die ich mich gerne erinnere: „Wie soll man da leben?“ ist der Titel meiner mit Hilfe einer elektrischen Schreibmaschine erstellten Magisterarbeit über Johannes R. Becher und Gottfried Benn, für die ich zahlreiche Bücher konsultiert habe. Ich habe den Zettelkatalog aufgefächert und war nicht alleine; der Raum, in dem dieser Katalog sich ausbreitete, war ein kommunikativer. Übrigens konnte man darin auch auf Bücher stoßen, die man eigentlich nicht gesucht hatte!

Der Zettelkatalog ist ein Zeugnis des Fleißes von Generationen von Bibliothekaren. Die Berliner Katalogkarten dokumentieren überdies die Geschichte von der Zensur und deren Überlistung zur Zeit der DDR. Wer einmal mit der Thematik schriftlicher Überlieferung sich beschäftigt hat, wird wissen, dass das Unterstreichen und das Durchstreichen, das Überarbeiten und das Ausradieren Kulturtechniken sind, welche die Formate der sogenannten Digitalisierung nicht adäquat abbilden können.

Hinzufügen möchte ich als Büchermensch, dass das Werk von Schriftstellern wie Jean Paul und Fernando Pessoa, Arno Schmidt und Walter Kempowski ohne die Zettel, aus denen es sich fügte, niemals so vielfältig geworden wäre, wie ich es erlesen und erleben kann. Aufzurufen ist in diesem Zusammenhang auch die Erinnerung an den Universalkünstler Armand Schulthess, der als sein Lebenswerk einen Wald zur „Bibliothek des Wissens“ umgestaltete: Er beschrieb Tausende kleiner Tafeln mit allen Erkenntnissen der Welt und hängte sie an den Bäumen und Sträuchern auf; etwas Vergleichbares mit den Karteikarten anzustellen, wäre ein tolles Projekt für das Friedrichshagener Wäldchen, in dem das Depot der Staatsbibliothek sich befindet!

Dass es nun aber als fortschrittlich und effizient gilt, solche trotz mehrerer Kriege glücklicherweise überlieferten „materiellen“ Güter zu zerstören, will nicht in meinen Kopf hinein. Je älter ich werde, desto mehr entsetzt mich die herrschende Tendenz der Gegenwart, eine Zukunft berechnen zu wollen, in der das menschliche Durcheinander ausgemerzt werden soll.

Ich bin traurig, doch meine Melancholie ist ein Gefühl der Lebendigkeit. Die Erinnerung ist das Paradies, aus dem ich nicht vertrieben werden kann.