Eine Stimme gegen das Vergessen

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„Freuds Schwester“ ist nicht das erste Werk des hierzulande noch wenig bekannten, aber durchaus beachtenswerten mazedonischen Autors Goce Smilevski, der, 1975 in Skopje geboren, in Prag und Budapest Kulturwissenschaften studierte; es ist 2011 mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet und in dreißig Sprachen übersetzt worden. Es ist die fiktive Autobiografie einer von Sigmund Freuds vier Schwestern, der kinderlosen, unverheirateten Adolfine. Smilevski, der sich schon früher der Rolle des Ich-Erzählers bediente, beispielsweise in „Gespräch mit Spinoza“, in welchem dieser über sein Leben berichtet, tut es auch hier und schafft damit eine mitreißende, fast private Nähe zum Leser: Er gibt Freuds Schwester eine eindringliche Stimme, die mit einfachen, starken, tief fühlenden Worten die Frage stellt: Trägt Sigmund Freud die Verantwortung am Tod seiner Schwester im Konzentrationslager Theresienstadt?

Das Buch beginnt mit den frühesten Erinnerungen Adolfines an den Jungen, der ihr Märchen zuflüsterte, der ihr ein Messer gab und sie mit einem Apfel streichelte, ihren Bruder Sigmund, und endet mit dem Versprechen an sich selbst, dass „der Mensch nichts anderes ist als Erinnern, dass der Tod nichts anderes ist als Vergessen“.

Dazwischen: das Panorama eines ganzen Lebens voller Sehnsüchte, Hoffnungen und Schmerz in einer Epoche des Aufbruchs und ein Freud, wie wir ihn noch nie gesehen haben. Ein Freud, der sich mit seinen Schriften selbst ertappt – ein Mensch der Schuld nämlich, ein Oedipus, ein Kain, ein fehlbarer Noah.