Die Sonne ging auf und sah alles

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Am Mittag des 24. Dezember war ich im Begriff, den Laden zu schließen, da fuhr Herr B. mit seinem Klapprad heran und rief mir die Frage zu, welches Buch ich denn über die Feiertage lesen werde. Ich antwortete: Einen Roman von Sillanpää. Er: Wie sich der buchstabiere? 

S-I-L-L-A-N-P-Ä-Ä !

Frans Eemil Sillanpää lebte von 1888 bis 1964. Ihn in diesen Tagen zu lesen liegt nahe, da der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1939 in seiner finnischen Heimat wegen seiner alljährlichen Rundfunkansprache an Weihnachten nie in Vergessenheit geraten ist. Bei uns ist es Sebastian Guggolz zu verdanken, dass seine Werke in frischem Deutsch wieder greifbar sind.  

„Jung entschlafen“ (Guggolz, 24 Euro), das Buch, das Sillanpää vor hundert Jahren niederzuschreiben begonnen hat, strotzt vor bedrückender Gegenwart. Damals schon hat ein russischer Krieg „so furchtbare Umwälzungen in der ganzen Welt verursacht, dass nichts mehr von dem, was vorher war, erreichbar ist“. Die Wirren der Kämpfe durchdringen zum Ende hin den ganzen Roman und führen zu Tod und Verderben.

Doch hebt das Buch an mit einer Hymne auf das Leben: „Die große Wanduhr schreitet langsam und stetig durch alle Momente des Lebens hindurch, Minute für Minute, durch Fest- und Alltag, durch Windstille und Wind. Jeder, der am Leben ist, muss sie ja doch alle selbst erleben, und über jede Minute muss zumindest insofern Rechenschaft abgelegt werden, dass nach ihr eine weitere beginnt.“  (mehr …)

Das Unschwärmerische, was das Dasein verpflichtet

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Auch er ist einmal Soldat gewesen: Max Frisch wurde infolge der Generalmobilmachung im September 1939 zum Militärdienst eingezogen, um als Kanonier die Schweizer Grenze gegen die drohende Invasion der Deutschen zu verteidigen. Sein Vorgesetzter hat ihn veranlasst, seine Eindrücke aufzuschreiben; der studierte Architekt stand erst am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere; im Jahre 1940 bereits ist das Buch in Zürich erschienen. 

Es ist wiederum der Atlantis-Verlag, der nun die vollständige Neuausgabe jener Blätter aus dem Brotsack vorlegt (22 Euro). Eine in der derzeitigen Umgebung beeindruckende Leseerfahrung! 

Der Krieg, der beinahe ganz Europa überziehen wird, gilt auch der Existenz dessen, der nicht unmittelbar betroffen ist, als Herausforderung. Die Schönheit der Welt erscheint als eine Zumutung.  (mehr …)

Der Traum und das Leben

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BdN_Nerval_Aurelia_Cover_2D_web-26a453f5Gérard de Nerval ist im deutschen Sprachraum nahezu vergessen, obwohl er doch ein großer Kenner der deutschen Literatur war. In der „Bibliothek der Nacht“ liegt nun sein „Le Rêve et la Vie“ (1855) vor, Jahrzehnte vor Freuds und Kafkas Werken entstanden, eine tiefgründige Analyse menschlicher Identität:

„In jedem Menschen gibt es einen Beobachter und einen Handelnden, den der spricht und den der erwidert. Beide durch stoffliche Wahlverwandtschaft an den gleichen Leib gebunden, ist der eine vielleicht für den Ruhm und das Glück bestimmt und der andere zur Vernichtung oder zu ewigem Leiden.“

Vielleicht: ein schönes Wort, aber auch ein grausames …

Wir ahnen unsere Bestimmung, aber wir wissen nicht, ob wir selbst sie erfüllen können oder ob es der andere für uns tut.

Ein gehaltvolles Jugendbuch

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36861Melina hat es schwer: Ihr kleiner Bruder starb durch plötzlichen Säuglingstod, ihre Mutter leidet seitdem unter tiefen Depressionen und ist kaum noch ansprechbar, ihr Vater ist mit der Situation total überfordert, und nun steht auch noch ihr erster Schultag im Gymnasium an. Und gleich verläuft alles schlecht: Sie muss alleine frühstücken, das Nachbarmädchen ignoriert sie auf dem Weg zur Schule und ein Schüler macht sich schon in der ersten Unterrichtsstunde über sie lustig. (mehr …)

Der Ernst des Sterbens

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332_55218_129504_xlNietzsche, Mencken, Chesterton, Hitchens. Die großen (ironischen) Denker beziehen ihre Kraft aus der Überheblichkeit, die materielle Welt geistig bewältigen zu können. Christopher Hitchens hat nun aber den schmerzlichen Prozess zu beschreiben, wie kein Denken gegen den rasanten materiellen Verschleiß ankommt, welchen die lebensbedrohliche Krankheit bedeutete, die ihn plötzlich befiel. (mehr …)

Das Leben ein Traum

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Das ist ein philosophischer Roman, Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“ werden nicht grundlos zitiert. Es geht darum, wer wir sind, wie wir leben sollen und wie wir wirklich leben, wie sich eine Lebensgeschichte bildet, indem sie ihre Bedeutung aus der Gegenwart zieht: „viele Erinnerungen [werden] wegen einer rückwirkenden Weichenstellung eliminiert“. Die „Erkenntnisse“, die auf Seite 179 beginnen, will ich nicht vorwegnehmen, um Ihnen den Spaß an der Auflösung von Weitlings Geschichte nicht zu nehmen.  (mehr …)

Balsam für die Seele

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buchEin sehr sensibles, berührendes Buch über Leben und Sterben, Freude und Schmerz, Finden und Verlieren, Glauben und Spiritualität legt uns die italienische Autorin Susanna Tamaro, fünf Jahre nach Erscheinen ihres letzten Romanes, in die Hände. Der Titel „Mein Herz ruft deinen Namen“ erinnert unwillkürlich an ihren Welterfolg „Geh wohin dein Herz dich trägt“ und dürfte von Gehalt, Intensität, Lebensweisheit und Komposition diesem nicht nachstehen. (mehr …)

Kunst, die das Leben distanziert

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36812Der Künstler, der das Leben darstellen und objektivieren möchte, muss an der Ehe scheitern: Faszinierend beschreibt Hesse in diesem Schlüsselroman sein eigenes Dilemma, dessen Auflösung ein unermesslich großes Opfer bedeutet: den Tod des geliebten Kindes. „Im Sommer möchte ich bloß weiße Kleider tragen, dann wäre es wieder gut.“

Eine Stimme gegen das Vergessen

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„Freuds Schwester“ ist nicht das erste Werk des hierzulande noch wenig bekannten, aber durchaus beachtenswerten mazedonischen Autors Goce Smilevski, der, 1975 in Skopje geboren, in Prag und Budapest Kulturwissenschaften studierte; es ist 2011 mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet und in dreißig Sprachen übersetzt worden. Es ist die fiktive Autobiografie einer von Sigmund Freuds vier Schwestern, der kinderlosen, unverheirateten Adolfine. (mehr …)