Konrad Paul Liessmann schreibt: „Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als im digitalen Raum mit einem Wirklichkeitsvorbehalt zu arbeiten. In Zukunft wird es vielleicht notwendig sein, zuerst anzunehmen, dass alles, was uns über digitale Medien erreicht, fingiert sein kann.“ („Was nun?“, Zsolnay, 25 Euro).
Das gute alte Radio, nämlich der Deutschlandfunk, hat dieser Tage ein Gespräch mit dem Leseforscher Christian Dawidowski gebracht, der als Professor an der Universität Osnabrück mit der Ausbildung von Lehramtsstudenten betraut ist. Er sagt: Die staatlich geförderte „Digitalisierung“ führt zu einer neuen Normalität; als Absolvent kommt man damit durch, Deutschlehrer zu werden, ohne überhaupt noch ein Buch durchgelesen zu haben. Zur Bewältigung wissenschaftlicher Literatur gibt es inzwischen Programmierungen, die diese in sogenannte Podcasts umwandeln. Man kann von keinem Deutsch Studierenden erwarten, einen „Wilhelm Meister“-Roman von Goethe oder gar Thomas Manns „Zauberberg“ gelesen zu haben. Alle Vorhaben, die Lesefähigkeit der Heranwachsenden zu fördern, sind auf ernüchternde Art versandet, sagt der Professor.
Die Idee, dass das Buch eine Welt darstellt, die den Leser in seiner Selbstwahrnehmung erschüttert, ist tot. Der Nutzwert der Informationsaufnahme soll nun die Selbstoptimierung sein, und die von US-amerikanischen und chinesischen Unternehmungen betriebene „Digitalisierung“ ist das Vehikel dafür. Wir befinden uns im Zeitalter der Simulation reiner Gegenwart; was plötzlich auf dem Smartphone aufploppt, ist das Entscheidende und verdrängt alle historischen Hintergründe.
Leider tun (um auf den Buchhandel zu kommen) die Buchkonzernverlage alles dazu, diesen Trend zu fördern. Ich will bloß erwähnen, dass inzwischen jedes Jahr die gleichen Bücher der Autorennamen Florian Illies und Richard David Precht und Ferdinand von Schirach als angebliche Neuheiten und mit den roten Bestselleraufklebern erscheinen. Derlei Machenschaften machen den Betrieb eines Buchladens überflüssig.
Die wirklich kreativen Bücher hingegen verschwinden nach wenigen Monaten vom Markt. Vor fünf Jahren erschien die deutschsprachige Version der sensationellen Erkundungen des Klarinettisten David Rothenberg über die Nachtigallen in Berlin; ich habe noch ein Exemplar des vergriffenen Bandes hier (Rowohlt, 26 Euro).
Darin äußert der Autor die folgenden Gedanken: „Je futuristischer wir werden, desto mehr überleben wir uns und schaffen etwas, das veraltet. Mir macht Sorgen, ob Technisches nicht zu schnell alt klingen wird. Wir mögen den Lärm. Wir ziehen ihn reinen Tönen vor, die unsere Synthesizer ebenfalls hinkriegen. Warum ist das so? Weil wir selber unrein sind. Nur unsere Gedanken bringen Kreise, Rechtecke und Dreiecke in Reinform hervor, die reale Welt jedoch tritt uns mit der Unschärfe des Ungleichmäßigen entgegen. Mit Makeln, mit Staub, Schmutz und Dreck. Eine Oberfläche ist niemals vollkommen rein, keine menschliche Stimme klingt wie genau eine andere. Deswegen müssen wir alle singen.“
John Updike schreibt in seinen tollen „Erinnerungen an die Zeit unter Ford“ (Rowohlt, 8,50 Euro): „Wahrlich, unser Leben ist wie das Universum: nichts geht verloren, alles erfährt nur eine Umwandlung auf der Rutschbahn zur Unordnung hin.“ Wenn der Mensch etwas tut, dann soll es schiefgehen können.