Ein Kulturgutverlust

Von , am in angesagt

Ich bin kein Pessimist. Ich bin traurig.

Die Welt, in der ich mich lebendig bewegt habe, wird nun „entsorgt“. Wer seiner Intuition vertrauen wollte, gilt als Störfaktor oder sogar Reaktionär.

Der Generaldirektor der Berliner Staatsbibliothek, die zum sogenannten „Preußischen Kulturbesitz“ gehört, hat soeben angekündigt, den überlieferten Zettelkatalog zu vernichten; die Müllcontainer seien schon bestellt. Es müssen also gar nicht erst die Russen kommen, um deutsches Kulturgut zu ruinieren.

Warum gehört diese Nachricht hierher? Weil dieser Zettelkatalog seit einigen Jahren in dem Depot der Staatsbibliothek in unserem Ort Friedrichshagen aufbewahrt wird.

Es gibt eine originelle intellektuelle Leistung in meinem Leben, an die ich mich gerne erinnere: „Wie soll man da leben?“ ist der Titel meiner mit Hilfe einer elektrischen Schreibmaschine erstellten Magisterarbeit über Johannes R. Becher und Gottfried Benn, für die ich zahlreiche Bücher konsultiert habe. Ich habe den Zettelkatalog aufgefächert und war nicht alleine; der Raum, in dem dieser Katalog sich ausbreitete, war ein kommunikativer. Übrigens konnte man darin auch auf Bücher stoßen, die man eigentlich nicht gesucht hatte!

Der Zettelkatalog ist ein Zeugnis des Fleißes von Generationen von Bibliothekaren. Die Berliner Katalogkarten dokumentieren überdies die Geschichte von der Zensur und deren Überlistung zur Zeit der DDR. Wer einmal mit der Thematik schriftlicher Überlieferung sich beschäftigt hat, wird wissen, dass das Unterstreichen und das Durchstreichen, das Überarbeiten und das Ausradieren Kulturtechniken sind, welche die Formate der sogenannten Digitalisierung nicht adäquat abbilden können.

Hinzufügen möchte ich als Büchermensch, dass das Werk von Schriftstellern wie Jean Paul und Fernando Pessoa, Arno Schmidt und Walter Kempowski ohne die Zettel, aus denen es sich fügte, niemals so vielfältig geworden wäre, wie ich es erlesen und erleben kann. Aufzurufen ist in diesem Zusammenhang auch die Erinnerung an den Universalkünstler Armand Schulthess, der als sein Lebenswerk einen Wald zur „Bibliothek des Wissens“ umgestaltete: Er beschrieb Tausende kleiner Tafeln mit allen Erkenntnissen der Welt und hängte sie an den Bäumen und Sträuchern auf; etwas Vergleichbares mit den Karteikarten anzustellen, wäre ein tolles Projekt für das Friedrichshagener Wäldchen, in dem das Depot der Staatsbibliothek sich befindet!

Dass es nun aber als fortschrittlich und effizient gilt, solche trotz mehrerer Kriege glücklicherweise überlieferten „materiellen“ Güter zu zerstören, will nicht in meinen Kopf hinein. Je älter ich werde, desto mehr entsetzt mich die herrschende Tendenz der Gegenwart, eine Zukunft berechnen zu wollen, in der das menschliche Durcheinander ausgemerzt werden soll.

Ich bin traurig, doch meine Melancholie ist ein Gefühl der Lebendigkeit. Die Erinnerung ist das Paradies, aus dem ich nicht vertrieben werden kann.