Veränderungen

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Mein Beitrag aus dem August, der sich der drohenden Vernichtung des Berliner Zettelkataloges widmete, hat ein großes Echo hervorgerufen. Ein Leser machte mir den Protestbrief zugänglich, den er an den Generaldirektor der Staatsbibliothek richtete. Darin steht der Satz: „In einer Zeit wie der gegenwärtigen, wo man jeden Tag kopfschüttelnd denkt ‚Das kann ja nicht wahr sein‘, ist jede Nachricht, die von destruktiver Energie, von Geschichtsblindheit und von Ignoranz kündet, ein weiterer Beitrag zur wachsenden Resignation.“ Eine Äußerung, die mich tief berührt! 

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann, dessen Vorlesungen über Kierkegaard vor über 30 Jahren in Wien sich mir einprägten, hat kürzlich dem SPIEGEL ein Interview gegeben. „Reagiert eine gealterte Gesellschaft sensibler auf Krisen?“ fragt der Redakteur, und der 72-jährige Liessmann antwortet: „Ja! Weil sie Veränderungen eher als Veränderungen wahrnimmt. Wer wie ich mit analogen Büchern aufgewachsen ist, auch mit der Recherche in Bibliotheken, der muss gerade die Erfahrung machen, dass ein zentraler Wert seines Lebens radikal entwertet wird. Ein 15-Jähriger hat wenig zu verlieren. Ich sehr viel.“ 

Liessmann hat gerade eine Philosophie der Krise veröffentlicht: „Was nun?“ (Zsolnay, 25 Euro) Er sagt: „Wenn uns die Dinge entgleiten, eröffnen sich Möglichkeiten.“ So könnten wir mit den Augen der Kinder die Welt betrachten in ihren Einzelheiten, um nicht zwangsläufig auf ihr Wirkenwollen uns einzulassen. 

In den „Minima Moralia“ von Theodor W. Adorno (Suhrkamp, 23 Euro) las ich: „Hebbel wirft in einer überraschenden Tagebuchnotiz die Frage auf, was ‚dem Leben den Zauber in späten Jahren‘ nähme: ‚Weil wir in all den bunten verzerrten Puppen die Walze sehen, die sie in Bewegung setzt, und weil eben darum die reizende Mannigfaltigkeit der Welt sich in eine hölzerne Einförmigkeit auflöst. Wenn einmal ein Kind die Seiltänzer singen, die Musikanten blasen, die Mädchen Wasser tragen, die Kutscher fahren sieht, so denkt es, das geschähe alles aus Lust und Freude an der Sache; es kann sich gar nicht vorstellen, dass diese Leute auch essen und trinken, zu Bett gehen und wieder aufstehen. Wir aber wissen, worum es geht.‘“ 

Wie wäre es dagegen, von dem Wissen um die Verwertbarkeit gesammelter Erfahrungen herabzusteigen und einen einzelnen Eindruck wahrzunehmen gleich einem Wunder? Lesen Sie dazu von Emanuele Coccia das „Sinnenleben“ (Hanser, 22 Euro)!