Die Seele, unsere Substanz

Von , am in lesenswert

alles_was_wir_geben_musstenKazuo Ishiguro beschreibt in diesem Roman eine mögliche Zukunft. Er führt uns in eine Welt, in der es zwei menschliche Existenzen gibt, die sich ausschließlich in ihrem Schicksal unterscheiden. Ganz leise führt uns die Protagonistin Kathy H. durch die Geschichte, wenn sie im Jetzt ihres 31. Lebensjahrs eintaucht in Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend: „Ich heiße Kathy H. Ich bin einunddreißig Jahre alt und arbeite inzwischen seit über elf Jahren als Betreuerin. […] Wenn ich jetzt übers Land fahre, erinnern mich immer noch viele Dinge an Hailsham. […] Damals wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie viel Glück wir gehabt hatten – Tommy, Ruth, ich, wir alle.“

Die Geschichte beginnt mit wohlvertrauten Bildern: Ein englisches Internat, Aufseherinnen, die sowohl um die Gesundheit als auch um die seelische Erbauung ihrer Zöglinge bemüht sind, ein Zaun als Grenze zur Welt. Hailsham also. Eine Zeit vor dem Internatsleben scheint es eben sowenig zu geben, wie eine Existenz außerhalb der Internatsmauern. Kathy erinnert sich an ihr vierzehntes Lebensjahr zurück, sie erinnert sich an ihre Freunde in Schuluniformen und großen Schlafsälen, an den ermunternden Zeichenunterricht, an den Tratsch im Pavillon hinter dem Schulgebäude, an Spiele und Streiche und dieses seltsame Gefühl, ein Teenager zu sein. An all das erinnert sie sich, unaufdringlich, leise – Erinnerungen und Anekdoten plätschern nur so daher und erscheinen als bloße Darstellung einer Teenagerexistenz in der späten Mitte des 19. Jahrhunderts.

Kathys Geschichte beginnt mit einem einschneidenden Erlebnis, oder besser mit zwei Erlebnissen: Zum einen verliebt sie sich, zum anderen wird ihr durch eine unachtsame Lehrerin ihr Schicksal offenbart. Bedeutsam für Kathy ist nur ersteres – hierin liegt die Motivation, ihre Gedanken zu erzählen und zu ordnen. Dem Wissen um ihr Schicksal begegnet die Protagonistin mit stoischer Ignoranz. Es ist eine peinliche Angelegenheit, im Moment der Offenbarung gehen nur verlegene Blicke durch die Reihen. Ein Tabu wurde gebrochen und Kathys Schweigen darüber ist erdrückend.

Kathy will die Geschichte ihrer großen Liebe erzählen – Kazuo Ishiguro die einer düsteren Welt, deren Möglichkeit nicht all zu fern ist: „Nach dem Krieg, Anfang der fünfziger Jahre, als Schlag auf Schlag die großen naturwissenschaftlichen Durchbrüche erfolgten, blieb keine Zeit, Bilanz zu ziehen“, erzählt die ehemalige Schulleiterin Miss Emily ihren nun schon erwachsenen Zöglingen. Sie erzählt von einer Welt, in der es kaum mehr Krankheit gibt, in der sich Menschen nicht mehr um ihre Gesundheit sorgen müssen; sie erzählt von einem Luxus, auf den nun niemand mehr verzichten kann und dessen Fundament Kathy und ihre Kollegiaten sind. Miss Emily erzählt ihnen aber auch, dass sie, da sie in Hailsham aufgewachsen sind, etwas besonderes sind, denn sie hatten die Möglichkeit, sich zu entfalten. Entgegen der Mehrzahl ihrer Art, haben sie wahre Bildung erfahren in Form von Zeichen-, Literatur- und Musikunterricht, sie waren frei sich zu bewegen, zu spielen, zu lieben und ihr kurzes Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.

Kazuo Ishiguro zeigt uns eine gänzlich andere Entwicklung der Welt. Im Hier und Jetzt seiner Dystopie gibt es zwei Formen der menschlichen Existenz: Menschen und Klone, deren Leben darauf ausgerichtet ist, nach einer gewissen Zeit systematisch alle Lebenswichtigen Organe zu spenden. Kathys glückliche Kindheit in Hailsheim und ihr freies und unbeschwertes Leben in den Cottages wird überschattet durch eine Zukunft, die ihr einen frühen Tod verspricht. Das Unbehagen wächst, wenn Tommy, die geheime Liebe Kathys, ohne den geringsten Protest ihrerseits, eine Beziehung mit ihrer besten Freundin Ruth eingeht. Aber auch hier bleiben Kathys Gefühle leise im Verborgenen.

Auch nach ihrer Zeit in Hailsham, mit ihrer Überführung in kleine Dörfer und Wohngemeinschaften, bleiben die Kollegiaten unter sich. Berührungsängste gibt es auf beiden Seiten: „Ob sie Angst vor Ihnen hat? Wir haben alle Angst vor Ihnen“, erklärt Miss Emily, und auch Kathy und ihren Freunden fällt es schwer, sich in der normalen Welt zu bewegen. Ihre Existenz und ihr Schicksal ist in dieser dystopischen Gesellschaft eine unausgesprochene Tatsache; eine peinliche Angelegenheit, für die normalen Menschen wie für die Kollegiaten selbst. Das besondere an Hailsham ist der Versuch, zum einen der Gesellschaft ihren Umgang mit den Klonen vor Augen zu führen und dies moralisch in Frage zu stellen; zum anderen ist Sinn und Zweck der bildungsreichen Erziehung die humane Behandlung der Klone und die Erkundung und Offenlegung ihrer Seelen, kurz gesagt: zu zeigen, dass sie Menschen sind, ebenso wir ihre genetischen Vorlagen.

Als Kathy und Tommy dies erfahren, verstehen sie es nicht; ihr Schicksal, ihre Bestimmung, ihre Existenz ist ihnen gleichgültig, kein Wort des Protestes kommt über ihre Lippen; das einzige, was sie wollten, wäre ein wenig mehr Zeit. Die Figuren von Kazuo Ishiguro besitzen weder Vernunft noch Charakterstärke im Hinblick auf ihre Existenz. Die Briefe, die eine neue Spende ankündigen, erzeugen keine Angst in ihnen, selbst wenn klar ist, dass es die letzte sein wird.

Tommy und Kathy hoffen auf ein wenig mehr Zeit für ihre Liebe – der einzige Moment, in welchem sie einen Sinn für Zukunft entwickeln. Ansonsten verharren sie ziellos in ihrer Existenz, beschäftigen sich, womit sich gelangweilte Jugendliche beschäftigen, warten stumm auf ihre Auslöschung. Das einzige, was sie noch reizt, ist die Möglichkeit ihrem Original, d.h. ihrer genetischen Vorlage zu begegnen. Hierin legen sie ihre ganze Zukunftsphantasie – der Wunsch eines Originals als Schauspieler oder Bankangestellte.

Kathy und ihre Freunde lieben, sind eifersüchtig und wütend, sie fühlen und hoffen wie Menschen, und doch fühlen und hoffen sie nicht richtig. Sie bleiben ihrem Schicksal gegenüber kühl und distanziert, sie nehmen es an, ohne darüber zu reflektieren. Sie empfinden sich nicht gleich normalen Menschen, son­dern akzeptieren ohne weiteres den Unterschied, ohne dass dieser klar beschrieben wäre – denn worin liegt dieser Unterschied? Miss Emily deutet es an: In dem Glauben, dass Klone keine Seele haben.

Ein Organ namens Seele also? Miss Emily glaubt, anhand des künstlerischen Schaffens ihrer Zöglinge zeigen zu können, dass sie eine Seele haben. Liegt also Kazuo Ishiguros Antwort auf diese Frage im Tätigsein? In der antiken Philosophie wird die Seele als ein Bestandteil des Menschen verstanden, welche wiederum unterteilt ist in drei Vermögen: Fühlen bzw. Handeln, Denken und Triebvermögen. Hegel definiert dann die Seele als eine Entwicklungsstufe des Geistes: „Die Seele ist nicht nur für sich immateriell, sondern die allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben. Sie ist die Substanz, die absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes, so dass er in ihr allen Stoff seiner Bestimmung hat und sie die durchdringende, identische Idealität derselben bleibt.“ Vereinfach gesagt, ist die Seele in beiden Definitionen Instrument der geistigen Prägung in der Form eines reflexiven Sich-Selbst-Bewegens. „[D]er Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen […]“, schreibt Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“  und begründet damit das, was wir heute als Würde des Menschen bezeichnen.

Die zwei Fragen, die hier durch Philosophen der Antike und des deutschen Idealismus beantwortet werden können, sind Fragen die Kazuo Ishiguro nur zwischen den Zeilen stellt. Sie flackern sanft auf, in der Form eines leichten Unbehagens gegenüber der Situation, in der sich Kathy befindet. Um sie beantworten zu können, muss man sich diesem Unbehagen, diesem unguten Gefühl, in welches Kazuo Ishiguro uns entlässt, schlicht hingeben. Was ist die Seele? Darf man Menschen, selbst wenn sie Klone sind, für einen bestimmten Zweck verwenden?

Die Revolte gegen Kazuo Ishiguros düstere Zukunftsvision findet nicht in den Protagonisten statt, sondern in der Leserin, die umso lauter das einfordert, was die Kollegiaten von Hailsham nicht begreifen: den Zweck an sich selbst.