Heda! Hier kommen die Kalender!!

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Der vom Dudenverlag herausgegebene Kalender Vergessene Wortschätze widmet sich auf einem Blatt pro Tag einem Wort, das aus dem Duden bereits gestrichen ist oder womöglich bald von der Streichung betroffen sein wird.

Am heutigen Tag geht es um das Verb ausbaldowern. Es stammt aus dem Rotwelschen: der Baldower ist wortwörtlich der Herr der Sachen.

In dem Buchgeschäft bin ich der Herr, nämlich derjenige, der Nachforschungen anstellt und die Sachlage schon einmal ausspäht: Die ersten Kalender für das Jahr 2023 sind eingetroffen, der erwähnte Dudenkalender ist schon dabei! Damit ich die kommenden Kalenderlieferungen klug und vorausschauend disponieren kann, bin ich auf Ihre Unterstützung angewiesen. Bitte teilen Sie mir so früh wie möglich Ihre Wünsche mit, damit ich diese gegen Ende des Jahres erfüllen kann: Vom Erdmännchen-Planer bis zu den Gewölben des Himmels ist alles drin.

Großformatige Wandkalender kann ich jederzeit zur Abholung rerservieren, kleinere Formate verschicke ich auch portofrei zu Ihnen nach Hause (innerhalb Deutschlands und nicht an Packstationen). 

In Ruhe lesen

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20 von den berühmten 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr gehen für die Digitalisierung der Streitkräfte drauf, da wäre es doch ein Klacks dagegen, jeden wehrtüchtigen Menschen mit einem dtv-Bändchen auszustatten: das Handbüchlein der Moral von Epiktet gehörte in jeden Tornister, wenn der Buchhändler etwas zu sagen hätte!

Für 7 Euro bekommt man eine Handreichung, sich gegen den Meinungskampf unserer Tage zu rüsten.

Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen, heißt es darin: Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen oder beunruhigt oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen andern anklagen, sondern uns selbst, das heißt: unsere eigenen Meinungen.

Aufs Smartphone starrend wird der Soldat seinen Einsatz versemmeln. Die Lektüre des Epiktet erlaubt ihm hingegen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Ich werde dem Beschaffungsamt der Bundeswehr die Anschaffung des Büchleins vorschlagen, um etwas von dem 100-Milliarden-Kuchen abbekommen zu können. 

Flanke, Kopfball, Tor

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Mein Tag beginnt mit den Deutschlandfunk-Informationen am Morgen, die sind inzwischen eine Dauerwerbesendung für die NATO geworden: Als gute Nachricht hat dort also heute gegolten, dass mit einer Stärkung der Nord- und der Ostflanke zu rechnen sei. 

Da kam mir der Gedanke an den 1. FC Union Berlin, der fortan die Nummer 1 im Nordosten ist und also gut gerüstet für den europäischen Fußballwettberb mit den schwedischen und finnischen Spitzenklubs. In dem Bändchen, das Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten über den Köpenicker Verein verzeichnet (Klartext, 14,95 Euro), erklärt Matthias Koch: Union gehörte in der DDR nicht zu den Spitzenklubs, die regelmäßig international spielten. Daher gab es keine Befreiung von der Einberufung von Spielern zum achtzehnmonatigen „Ehrendienst“ bei der Nationalen Volksarmee (NVA). Davon war Union im Zeitraum zwischen 1984 und 1988 von allen Oberliga-Vereinen am stärksten betroffen. Da lag also eine Wettbewerbsverzerrung vor. 

Heute kicken in der Bundesliga Spieler aus aller Herren Ländern, also bedeutet der kapitalistische Fußballbetrieb samt seiner internationalen Fan-Szenerien immerhin die Hoffnung, dass sich junge Männer nicht mehr mit ideologischen schweren Waffen aufeinander hetzen lassen. 

Wo ringsum alles stürzt

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Es ist ein zeitloses Buch und tritt in die Gegenwart ein. Seit heute gibt es die Aufzeichnungen Peter Handkes aus den Jahren 2016 bis 2021 zu lesen (Innere Dialoge an den Rändern, Jung und Jung, 26 Euro). 

Darin der Satz: 

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt: wo bleibt der Gott, zu sagen, wie er leidet? 

Und dann die Lektüre Wilhelm Genazinos: 

Christ sein müsste aus der Überfülle des ungefährdeten Lebens kommen … nicht aus Not.

So sprechen die Bücher miteinander. Die Schlussätze der Blätter aus dem Brotsack von Max Frisch (Atlantis, 22 Euro), die mich jüngst am tiefsten beeindruckt haben, lauten nämlich: 

Nur wer Glaube trägt, wird sich noch freuen, wenn Gläubigkeiten zerschellen, und auch das Grauen segnen, das er glaubt, glauben muss. Gott sind wir noch am nächsten, wo ringsum alles stürzt, wo uns seine Ferne entsetzt. 

Wir müssen zurückstecken

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In der westdeutschen Bundesrepublik gab es einen einzigen Bürger-Präsidenten, ich erinnere mich an das kantige Gesicht und die Hornbrille auf den Briefmarken der Siebzigerjahre. Mit Gustav Heinemann verbindet mich der Geburtstag (ich bin natürlich ein paar Jahre jünger) und das Bändchen mit seinen Präsidialen Reden (edition suhrkamp, vergriffen) gehört zu meinem Inventar. 

Die Qualität unseres Lebens in allen ihren Bezügen steht hier zur überprüfenden Erörterung. 

Am 11. April 1972 richtete Gustav Heinemann diese Worte an eine Versammlung der Industriegewerkschaft Metall: 

Das Tempo, das die unsere Luft, das Wasser und die Erde verseuchenden Einflüsse sowie der Abbau lebenswichtiger Rohstoffe angenommen hat, ist erschreckend. Die junge Generation kritisiert mit Recht das Ausmaß unserer Gedankenlosigkeiten. Um der Zukunft derer willen, die unsere Kinder und Enkel sind, müssen wir alle bereit sein anzuhalten und, wo nötig, zurückzustecken. Lebensführung und Lebensstandard der Industrievölker im ganzen können fragwürdig werden. 

Der gläubige Christ fuhr fort: 

Gott hat nicht gesagt, der Mensch solle die Erde ausbeuten. Er hat uns die Erde anvertraut, und wir haben die Pflicht, sie pfleglich zu behandeln, auf dass sie die Lebensgrundlage auch derer bleibe, die nach uns kommen.  (mehr …)

Die Welt in Bewegung

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Es gibt das Unbequeme, dass die Welt ein Ereignis ist. 

Die Blätter aus dem Brotsack, Max Frischs Aufzeichnungen am Beginn des 2. Weltkrieges, finde ich furchterregend. Ich denke daran, dass der Politologe Herfried Münkler neulich gesagt hat, nun sei es endlich angebracht, mit „Worst-Case-Szenarien“ zu rechnen, wenn ich Max Frisch lese: 

Man entsetzt sich über die täglichen Bombenopfer, die wir nur in schwacher Vorstellung sehen, und es erhebt sich der Zweifel, ob es nicht ein ganz anderes Entsetzen ist. Man nimmt es den Dingen, schon dass sie sich bewegen, von Herzen übel. Man empört sich über das Störende, das Entsetzen darüber, dass die Welt nicht ein Bestand, sondern eine Bewegung ist. Empörung ist zuviel gesagt; es ist Ärger. Es ist das vollkommen Hilflose gegenüber dem Ereignis an sich, gegenüber dem Leben schlechthin, gegenüber der Tatsache, dass es nicht nur Geschichte, sondern Geschehen gibt, dass die Welt nicht endlich zu Ende ist. 

Wenn es je ruhige Zeiten gab, so sind sie nun vorbei. Die Bombeneinschläge kommen näher. 

Give Peace a Chance

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Es gab einen Moment des Innehaltens heute, als die Radiostationen überall in Europa das Lied von John Lennon für den Frieden spielten. 

Ich bin und bleibe ein Kriegsdienstverweigerer. Wer zu den Waffen greift, muss sich rechtfertigen, finde ich, nicht derjenige, der die Waffen niederlegt. 

Auch Erich Mühsam hätte heute mitgesungen. Er war vor 120 Jahren ein Friedrichshagener und damals übrigens von keinem Energielieferanten abhängig; seine Behausung war unbeheizt. Wenn die Behörden ihn belangen wollten, machte er sich durch das rückwärtige Fenster davon; hinter dem Haus begann ein Kiefernwald (siehe Der Friedrichshagener Dichterkreis, Antiquariat Brandel, 6 Euro). 

Mit Mühsam war kein Staat zu machen und also auch kein Krieg. 

Wer die Zurückdrängung von Pest- und Choleraseuchen als Sieg der Menschheit bejubele, der könne keinen Krieg der Welt rechtfertigen, schrieb er: „Entweder wollen wir die schicksalsgewollten Auskehrungen unter den Menschen willig tragen, dann ist der Kampf gegen die Bakterien eine Heuchelei, oder wir wollen uns gegen verheerendes Unglück schützen, dann müssen wir den Krieg verhüten wie jede andere Pest.“ (Das seid ihr Hunde wert!, Verbrecherverlag, 19 Euro) 

Man muss den Krieg hassen, wenn man Mensch bleiben möchte. 

Im Rahmen der Meinungsfreiheit

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Es irritiert mich, dass in dem Moment, da in Kiewer Metrostationen Menschen sitzen, deren Wohnhäuser gerade von russischen Luftstreitkräften zerstört werden, hier in Berlin in meine Buchhandlung Menschen kommen, die sich nach Büchern erkundigen, welche ihnen einreden, was für Verheerungen in der Welt das Imperium USA (Westend-Verlag, 25 Euro) angerichtet habe. 

Die Weltbilder sind das eine; daneben stehen die unmittelbaren Erfahrungen.

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur.“  (mehr …)

Ohne viel Blabla

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Wer nicht der kalten Logik der Funktionstüchtigkeit folgt, ist der Mensch, der spielt. 

Was zur Zeit in Peking stattfindet, sollen die Spiele der Olympiade sein, heißt es. In Wirklichkeit ist es eine menschenverachtende Veranstaltung. 

Weltweit verbreitet sind Coronaviren. Ein Athlet, der sich lange Jahre auf den sportlichen Wettkampf vorbereitet hat, muss sich in ein Hotelzimmer einsperren lassen, wenn er das Pech hat, als Virenträger und -überträger herausgefiltert zu werden. 

Es ist Winter, aber es gibt keinen Schnee in China. Auf der glatten Kunstschneepiste begibt sich die Skirennläuferin in größte Verletzungsgefahr. 

Unter russicher Flagge dürfen die Sportler aus Russland nicht antreten, da dieser Staat als Anrührer von Dopingmitteln gilt. Der prominenteste Staatsgast, der bei der Eröffnungsfeier begrüßt wird, ist der russische Präsident. 

Angehörige einer muslimischen Minderheit befinden sich in China in Umerziehungslagern. Länder, die den Islam als ihre Staatsreligion bezeichnen, sind dennoch mit Sportlern in Peking präsent. 

Das Ganze findet ohne Zuschauer statt. Fernsehübertragungen dienen der Verbreitung der sportlichen Konkurrenzen, die aus Werbegeldern multinationaler Konzerne finanziert werden.  (mehr …)

Singen und lachen

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Für das neue Jahr habe ich mir nur zwei Dinge vorgenommen: öfter ein Lied zu singen und viel mehr zu lachen.

Zur Zeit gehe ich morgens mit einem Ohrwurm von ABBA aus dem Haus: The winner takes it all, the loser has to fall. It’s simple and it’s plain. Why should I complain? Darin steckt zwar ein Schmerz, Leben heißt Verluste hinnehmen, doch macht es mich froh: die Neugier bleibt.

Viel gelacht habe ich bei der Lektüre Auf der Suche nach dem verlorenen Glück von Jean Liedloff (1926-2011), dieses Buch ist ein Schatz, der Titel der deutschen Ausgabe (bei Beck für 14 Euro) allerdings oberflächlich; der Wahn vom Glück ist ja eine intellektuelle Anstrengung. Das Buch sollte besser vielleicht „Leben im Einklang mit der Umwelt“ heißen.

Ein gewohntes Maß von Angst wird gerne aufrechterhalten, schreibt die Autorin, kann doch ein plötzlicher Verlust all dessen, „worüber man sich Sorgen machen kann“, eine umfassendere und unendlich viel akutere Form von Angst hervorrufen. Für einen seinem Wesen nach am Rande der Katastrophe beheimateten Menschen ist ein Riesenschritt in die Sicherheit nicht minder unerträglich als die Verwirklichung all dessen, was er am meisten fürchtet. 

Why should I complain? singen ABBA.

Jean Liedloff erzählt die Geschichte einer Freundin, die so durchs Leben stolperte, dass es zum Lachen ist. Diese Geschichte endet mit dem Satz: Als ich das letztemal von ihr hörte, erzählte sie mit der für sie bezeichnenden Fröhlichkeit, sie sei beim Aufräumen nach einer Party aus dem Rollstuhl gefallen und habe sich eines ihrer gelähmten Beine gebrochen.