Warum Friseure öffnen können

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Jeden Abend auf dem Heimweg, lese ich in Bohumil Hrabals „Ich habe den englischen König bedient“, grübelte ich, unterhielt mich mit mir selbst, erzählte mir von neuem, was ich an diesem Tag alles gesagt oder getan hatte, und fragte mich, ob ich es richtig gesagt oder getan hatte, und ich erkannte nur das als richtig an, was mich amüsiert hatte. Darin steckt die Idee, dass die Welt, selbst wenn sie schlecht ist, mir nicht schlecht bekommen muss, dass ich also vom Verderblichen mich nicht verderben zu lassen habe.

Warum dürfen Friseure öffnen und ich nicht, klagt eine Geschäftsfrau in der Bölschestraße und unterwirft sich dem Sachzwang, den sie bekämpfen möchte.

Dem Büchermenschen, der sich in der Literatur spiegeln kann, hilft gegen die falsche Wirklichkeit die Poesie. Sie sei das Vergnügen, so Hrabal, die schönen Dinge und Geschehnisse in die Erinnerung einfließen zu lassen: denn die Schönheit neige sich und reiche immer zum Transzendenten hin, das heißt zum Endlosen und zur Ewigkeit. 

An anderer Stelle schreibt der altersweise, darum heitere Autor: Zu den geflügelten Schuhen des Lachens passt die letzte Ölung am besten.

Was für ein Glück, in einem Buchladen zu sein! Hier bin ich von den Boten der Ewigkeit umgeben.  (mehr …)

Wimmelbücher und Warnungen

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Gerade habe ich das Paket vom Gerstenberg-Verlag ausgepackt, da greift die Kundin schon zu. Ich muss die Dame allerdings warnen: in dem Frühlings-Wimmelbuch (12,90 Euro), welches Rotraut Susanne Berner mit drolligen Bildern von Menschen und Tieren ausgestattet hat, die bei schönem Wetter unterwegs sind, ihren gewohnten Tätigkeiten nachgehen und sich auch einmal zu lustigen Streichen hinreißen lassen, werden die geltenden AHA-Regeln überhaupt nicht eingehalten; da ist keine Person zu sehen, die sich die Hände wäscht, wir haben es ausschließlich mit Maskemuffeln zu tun und die Menschen bewegen sich nicht mit dem erforderlichen Mindestabstand. 

Der Verlag hat es unterlassen, einen entsprechenden Warnhinweis auf dem Buchdeckel anzubringen! Man kennt doch von anderen Produkten die schwarz umrandeten Aufkleber. 

Ist das noch der Ausnahmezustand? Der neue Duden (Dudenverlag, 28 Euro) kennt schon die Maskenpflicht.

Wir haben uns dem Corona-Regime unterworfen, was obrigkeitsstaatliche Mittel bedeutet, um der Pandemie Herr zu werden. Dann kamen die Kollateralschäden (laut Duden ein Wort aus der Militärsprache). Die Gewerbefreiheit musste beschränkt werden und das Zusammenleben der Generationen vergiftet; wenn ihr heute nicht hübsch ordentlich und fromm bleibt, wurden die Kinder bald belehrt, dann stirbt übermorgen eure Oma im Altersheim. 

Schwarze Pädagogik.

Es erstaunt mich immer wieder, wie gefragt Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter noch ist, ich habe ihn daher immer im Sortiment (Esslinger-Verlag, 8,99 Euro). 

Es fühlt sich alles falsch an. Ich weiß aber auch nicht, was das Richtige ist.

Der Humor ist noch da. Doch die Verzweiflung wächst. 

Die Einbildungen

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Als ob es für einen über Achtzigjährigen ein Leichtes wäre, beugte Bohumil Hrabal sich weit aus dem Fenster, um die Vögel zu füttern, und fiel hinaus. Nein: Er ist aus dem Fenster geflogen, schrieb Péter Esterházy in seinem Nachruf auf den tschechischen Dichter. 

Und Esterházy charakterisierte Hrabal mit dem wundervollen Satz: Über das Bier und über Schopenhauer wusste er gleich viel. So heißt es bei Hrabal (übersetzt von Susanna Roth): Ein mit Firlefanz behangener, vom Jahrmarkt zurückkehrender Säufer ist nicht weniger wert als ein mit Orden und Auszeichnungen bekränzter Gelehrter, der einzig und allein das Verdienst hat, die Vergänglichkeit und Kürze des Lebens wissenschaftlich zu begründen und daraus das Postulat abzuleiten, dass man sich freuen soll, solange man dazu die Zeit hat, und ausflippen, solange es einem Spaß macht.

Worauf ich hinauswill, das ist aus dem Fenster zu rufen, was der Wiener Philosoph Robert Pfaller sagt: Alles, was Menschen große Freude macht, ist rund um ein »als ob« gebaut: Wir laden andere ein, als ob wir unendlich reich wären; wir tanzen, als ob es kein Morgen gäbe. Solchen Einbildungen glauben wir natürlich nicht, aber wir praktizieren sie augenzwinkernd. (Die Einbildungen. Das Zwiespältige. Die Geselligkeit, Picus-Verlag, 12 Euro)

Heute empfehle ich Tee. Doch bald werden die Biergärten wieder öffnen, daran glaube ich.

Von der Quitte

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Für das Weihnachtsgeschenk, das mir dieses Jahr die schönste Freude bereitet hat, sorgte die Schwägerin: Ich bekam ein Glas selbstgemachtes Quittenmus, und die Früchte, die sie so besonders zubereitet hatte, stammten von dem Quittenbaum aus dem Garten meiner Eltern!

Die Quitte ist meine Nummer 1 unter den Früchten. Sie ist auch die Nummer 1 in mandelbaums kleinen gourmandisen, einer feinen Buchreihe, welche unbekannte Rezepte und Klassiker, Warenkunde und kochtechnische Hinweise genauso wie eine Übersicht über Herkunft und Kulturgeschichte dieser und weiterer Delikatessen bietet.

Es gibt etwas Gutes in dieser besonderen Zeit: Wir besinnen uns auf das Wertvolle, was wir haben, und erinnern uns der Schätze und Bräuche, die uns unsere Ahnen gaben.

Unsere Erwartungen an Weihnachten

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Ich bin Katholik. Eines Tages werde ich dem Papst einen Mann zur Seligsprechung vorschlagen, von dem ich weiß, dass er Wunder bewirkt hat; allein dass es ihn gibt, ist ein Wunder. Wenn Sie in Friedrichshagen wohnen, wird Ihnen seine Erscheinung wohl gegenwärtig sein.

Ich rede von Gerhard Begrich. Die Wochenzeitung DIE ZEIT sprach dieser Tage mit ihm über unsere Erwartungen an das bevorstehende Weihnachtsfest:

Begrich (Foto: DIE ZEIT) ist der Meinung, dass wir heute so schwer zur Ruhe kommen, weil uns die Muße abhandengekommen sei. „Gerade im Advent deckt eine unglaubliche Hektik die Sinnfrage zu. In unserer Angst, etwas zu verpassen, verpassen wir das Augenblicksglück und gieren nach Glücksinflation.“ Dabei gebe es das Glück des Lebens nur angesichts des Todes. Der Tod mache das Leben wertvoll. Sich darauf zu besinnen, das sei Weihnachten und vertreibe die Furcht.

Es ist der Kern des christlichen Glaubens, jeden Mitmenschen so ansehen zu können, als begegne einem Gott. So ergeht es mir immer wieder mit Gerhard Begrich  — ich vermute allerdings, dass er ein Lutheraner ist: Seine Neuübersetzungen biblischer Schriften, die im Radius-Verlag erscheinen, stehen immer wieder in den Regalen meiner Buchhandlung.

Zu Beginn dichtete Gott den Himmel und die Erde,

heißt bei ihm der Anfang der Genesis, und jeder Dichter wird diese Übersetzung loben!

Ich wünsche mir und Ihnen zu Weihnachten, dass wir uns von unseren Erwartungen nicht betrügen lassen. Mögen wir wahrnehmen, was uns augenblicklich begegnet!

Mensch Merkel

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Die Mundwinkel galten als ihr Makel. Nun trägt sie Maske. An ihren Augen sollen wir sie erkennen (Foto: dpa/Kay Nietfeld).

Merkels Augen waren groß und strahlend blau, und sie konnten abwechselnd den Ausdruck von Frustration, Belustigung und Andeutungen von Besorgnis annehmen. Andererseits spiegelte ihre stoische Art ihr nüchtern-analytisches Bewusstsein wider. Gefühlsausbrüchen stand sie bekanntermaßen misstrauisch gegenüber.

Heute erscheint das erste Erinnerungsbuch des Präsidenten Barack Obama (Penguin, 42 Euro), und das in allen großen Sprachen der Welt; sieben Übersetzerinnen haben sich bemüht, aber das Resultat entspricht nicht immer der Eleganz des Originals.

Was in der deutschen Versionen deutlich wird: Obama ist ein großer Menschendarsteller. Pointiert schildert er seine Begegenungen mit Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur, mindestens zwei Literaturnobelpreisträger sind dabei.

Noch’n Gedicht

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Gerade kam Frau B. herein und fragte mich, ob ich ein Gedicht für sie hätte.

Ich schlug den von Jutta Bauer wundervoll subtil illustrierten Heinz-Erhardt-Kalender auf (Lappan-Verlag, 15,99 Euro) und las Die Schnecke:

Mit ihrem Haus nur geht sie aus! / Doch heut lässt sie ihr Haus zu Haus, / es drückt so auf die Hüften. / Und außerdem – das ist gescheit / und auch die allerhöchste Zeit  — : / Sie muss ihr Haus mal lüften!

Der Buchladen bleibt in den Zeiten der Pandemie gut gelüftet. Ich schließe die Ladentür abends um fünf.

Herr Brecht, Herr Tavares und Herr Xi Jinping

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Eine Berliner Filiale der Buchhandelskette Thalia bietet derzeit ein umfangreiches Sortiment an chinesischer Literatur an. Erstaunliche Titel finden sich da in den Regalen, beispielsweise China regieren“, eine Reden- und Schriftensammlung des um das Glück des chinesischen Volkes sich kümmernden Staatslenkers Xi Jinping. Nun kam heraus, dass die Regale von der China National Publications Import & Export Corporation bestückt werden und Thalia für die Bereitstellung der Ladenfläche kräftig kassiert.

Es ist übrigens nicht ungewöhnlich, dass derlei Präsentationen, die in dem Laden als Thalia.de Tipp bezeichnet werden, von den Konzernen finanziert werden, deren Bücher da feilgeboten werden.

Unabhängige Verlagshäuser haben es bei Thalia dagegen schwer. Ein Kunde, dem ich aus der Wiener Edition Korrespondenzen das Werk Herr Brecht und der Erfolg“ von Gonçalo M. Tavares (in Ganzleinen für 16 Euro!) ans Herz gelegt hatte, rief mich ein paar Tage später aus einer Thalia-Filiale an, wo man ihm dieses Buch, welches er nochmals verschenken wollte, nicht bestellen konnte: Es gab dort keinen Buchhändler, der diesen Autor Tavares kannte, dem von seinem portugiesischen Vorgänger Saramago einmal der Nobelpreis vorausgesagt worden war.

Der Herr Brecht von Herrn Tavares ist mit seiner Fabulierkunst so erfolgreich, dass die Hütte aus allen Nähten platzt!

Herrn Xi Jinping empfehle ich seine folgende Geschichte:

In einem Land tauchte ein Mensch mit zwei Köpfen auf. Er wurde als Monstrum betrachtet und nicht als Mensch.

In einem anderen Land tauchte ein Mensch auf, der immer glücklich war. Er wurde als Monstrum betrachtet und nicht als Mensch.

Was ist eigentlich eine Buchhandlung?

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Die Kulturstaatsministerin nimmt 20 Millionen Euro in die Hand, um den „Neustart Kultur“ in der Buchbranche zu bewerkstelligen. Unter einem Neustart (auch englisch Reboot oder Restart genannt) eines Rechnersystems (Computer) versteht man das erneute Hochfahren (Booten) des Rechners, wenn dieser bereits eingeschaltet ist. Ein Neustart wird auch Warmstart genannt, entnehme ich Wikipedia. Die Buchbranche gilt als systemrelevant, und klar wird aus den Förderrichtlinien, dass es sich bei dem System um ein Rechnersystem handelt:

Buchhandlungen mit Sitz oder Niederlassung in Deutschland erhalten Unterstützung für die Digitalisierung ihrer Vertriebswege – von der Anschaffung zeitgemäßer Hardware über die Einrichtung eines benutzerfreundlichen Webshops bis zu entsprechenden Fortbildungen. Alle Buchhandlungen mit maximal 2 Millionen Euro Umsatz im letzten Geschäftsjahr dürfen sich um die Förderung bewerben, vorausgesetzt ihr Gesamtumsatz setzt sich zu mindestens 50% aus dem Verkauf von Büchern zusammen.

Der größte Buchhändler in Deutschland heißt Amazon. Allerdings gibt es hierzulande auch kleinere Geschäfte, die sich zwar Buchhandlungen nennen, ihren Profit jedoch nicht hauptsächlich mit dem Verkauf von Büchern erzielen.

Was ist eigentlich eine Buchhandlung? Die Antwort bringt mir ein Buch, in dem der Romanautor von seinem Antrieb, eine Bar zu eröffnen, schreibt:

Es kann nicht sein, dass wir unsere gesamte Lebenszeit in keimfreien Büros und keimfreien Fitnessstudios, keimfreien S-Bahnen und keimfreien Wohnzellen zubringen, und es darf nicht soweit kommen, dass die Menschen einander nur noch im Internet begegnen. In einem lebendigen Gemeinwesen müssen die Menschen sich an einem physischen Ort frei begegnen können, man sollte seine Freunde nicht nur bei Facebook haben, und auch in Zukunft wird es Orte geben müssen, an denen wir unseren Tanz tanzen und unsere Lieder singen können in der knappen Zeit, die uns beschieden ist.

Ich wünsche der Kulturstaatsministerin, sie möge nicht nur an Ihrem Rechner sitzen, sondern sich auch einmal von einem Buch überraschen lassen. Das Buch, das ich in der Hand habe, heißt Das Leben ist gut, Alex Capus hat es verfasst.

Lesen hält wach

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In Ozeanien heißt die vorherrschende Philosophie Engsoz, in Eurasien heißt sie Neo-Bolschewismus, und in Ostasien trägt sie einen chinesischen Namen, der gewöhnlich mit Todes-Kult übersetzt wird, sich aber vielleicht treffender als „Auslöschung des Ich“ wiedergeben ließe. Der Bürger Ozeaniens darf nichts von den Leitsätzen der beiden anderen Philosophien wissen, sondern man lehrt ihn, sie als barbarischen Frevel an der Moral und dem gesunden Menschenverstand zu verabscheuen. In Wahrheit unterscheiden sich die drei Philosophien kaum, und die Gesellschaftssysteme, die von ihnen gestützt werden, unterscheiden sich überhaupt nicht. 

Das sind Sätze aus einem Ullstein-Taschenbuch, das immer in meiner Buchhandlung liegt, immer wieder gekauft und hoffentlich dann auch wirklich gelesen wird.

Es handelt sich um „1984“ von George Orwell, der heute vor 117 Jahren geboren wurde. Er schrieb diesen Roman 1948, also 36 Jahre vor dem Jahr, in dem seine Geschichte stattfindet. Nun sind weitere 36 Jahre vergangen und das Buch handelt immer noch und wieder von der Gegenwart.