Das Leben in seiner ganzen Fülle

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Abschiedsfarben heißt (nach Sommerlügen und Liebesfluchten) der neue Geschichtenband von Bernhard Schlink, und diese Farben sind alles andere als düster. Sein Olga-Roman hatte mich zuletzt formal nicht überzeugt, nun aber erkenne ich Schlink als unaufgeregten Autor in seiner schnörkellosen Sprache wieder. Der 75-Jährige vermag es, wie sonst eigentlich nur die großen Zeitgenossen der nordamerikanischen Literatur, in der Kurzgeschichte eine gesellschaftliche Symptomatik erkennen zu lassen, ohne jemals aufdringlich zu wirken. (Na gut, die Sex-Szenen erscheinen schablonenhaft, aber das ging mir bei James Salter auch schon so …)

Das Leid des Einzelnen geht im Leid der Welt nicht auf, das Unvorhersehbare ist es, was uns das Leben in seiner ganzen Fülle spüren lässt.

In seinem besten Roman, dem Wochenende, hatte Schlink die Erkenntnis vorweggenommen, die seinem Alterswerk anhaftet: Wir dürfen anderen die Wahrheit nicht aufnötigen, wir haben, wo Wahrheiten zu schmerzlich und wir ihnen nicht gewachsen seien, unsere Lebenslügen, und es gilt, im anderen die Wahrheit der Schmerzen zu sehen und zu respektieren, die seine Lebenslügen offenbaren.