Am 16. Juni ist Bloomsday

Von , am in lesenswert

45816Der Tag, an dem im Jahre 1904 Leopold Bloom durch Dublin geht und diese Stadt erlebt. Im „Ulysses“. Von Joyce.

„Waaas? Dieses Buch spielt an EINEM Tag?? Das ist ja so dick!“ so fragt mein Sohn.

Ja, 1014 ½ Seiten liegen einem hier vor – Dünndruck. In früheren Ausgaben sind es fast 1600.

„Wie ist das möglich? Ist das nicht langweilig?“

Diese Frage, hier von einem Kind gestellt, hat durchaus ihre Berechtigung, denn – und da bin ich sicher – zehntausende Erwachsene, eingeschlossen die verdienstvollsten Literaturwissenschaftler und belesensten Kritiker, haben sich das auch schon gefragt – oder verwundert geschwiegen.

Also, wie ist sowas möglich? Ist es das größte Romanprojekt, das je unternommen wurde oder ist es nur Blendwerk, Hokuspokus?

WAS ist Ulysses?

Die Meisten sind schlicht erschlagen. Erstaunt. Viele begegnen ihm mit gutgläubiger, aber fahrlässiger Ehrfurcht. Mancherorts (na gut, in ganz England) war man so fassungslos, dass die meisten erschienenen Exemplare beschlagnahmt und verbrannt wurden. Woanders (okay, … in Amerika) klagte man die für den Druck Verantwortlichen an und verurteilte sie.

Unzählige Diskussionsrunden wurden schon veranstaltet, um ihm auf die Schliche zu kommen, der Schlüssel in Homers Odyssee gesucht, viele weitere Fragen, gar nichts oder nur vermeintlich etwas gefunden.

„Ich möchte die jungen Leute zu Klubs organisieren, damit sie die Frage erörtern können: Sind wir so? und wenn die Abstimmung ein Ja ergibt, zu der weiteren Frage fortschreiten: Wollen wir so bleiben?, die, wie ich hoffe, verneinend beantwortet würde.“

Kein fanatischer, religiös-verklärter Irrer hat das gesagt, sondern der für seine wache Aufgeschlossenheit bekannte Bernard Shaw.

Die klügsten Leute haben schon zugegeben, es nicht verstanden zu haben. Viele, die einen Ruf zu verlieren hatten, haben einfach so getan als ob …

„Ich habe noch keinen Mann gesehen, der den englischen Text von Ulysses gelesen und verstanden hat; ich kenne zwar merkwürdige Ruhmesfanfaren von Literaten, die ihn nachweislich NICHT gelesen hatten – und ich erinnere mich, dass der englische Lektor der Ecole Normale in Paris, ein Ire aus Dublin, mir einmal sagte, er vermöge das Buch nicht zu bewältigen.“ So Kurt Tucholsky.

Für die Übertragung dieser, sagen wir mal, Schöpfung, von Joyce in den Jahren 1914 bis 1921 in druckbare Buchstaben verwandelt, benötigte der Übersetzer Hans Wollschläger, von dem die Suhrkamp-Ausgabe stammt, runde fünf Jahre.

Zu entscheiden, ob sie gelungen ist, wäre so anmaßend, wie einen Schwimmer, der am Ärmelkanal gescheitert ist, zu kritisieren, wenn man selbst überhaupt nicht schwimmen kann.

Was geschieht nun also an diesem 16. Juni 1904 in Dublin?

Das Verblüffende: Nichts Besonderes!

Es ist ein gewöhnlicher Tag mit alltäglichen Ereignissen, wie sie sich an jedem beliebigen anderen Tag zugetragen haben könnten. Und doch ist die Geschichte Weltliteratur.

Zunächst einmal muss man sich völlig von der gewohnten Art, ein Buch zu lesen, befreien und sich von der Vorstellung verabschieden, es hintereinanderweg von Vorne bis Hinten durchzulesen.

Eine Handlung, wenn vorhanden, ist nicht erkennbar, die Personen und Abläufe sind verwirrend, schon nach Kurzem weiß man nicht mehr: Was ist hier wirklich, was gedacht und was geträumt.

Es gibt nichts, dem man über längere Zeit folgen könnte, alles springt hin und her, es gibt keine Melodie, die einen über die Seiten trägt. Es holpert und stockt, es wabert der begriffliche Nebel, man liest Stellen noch einmal, in dem Wunsch, es zu verstehen und begreift es noch weniger.

Man versucht, sich daran zu gewöhnen, dass sogar Wasserfälle, Armreifen, Knöpfe und Türklinken Text haben, ganz zu schweigen von Titten-Kitty, Shakespeare und der Pummelmummelmumie – vergeblich.

Denn schon passiert etwas ganz Anderes und Neues.

Es geht hopplahopp und selbst wenn Leopold müde wird und ruht, dann reist er mit „Sindbad dem Seefahrer und Tintbad dem Teefahrer und Findbad dem Feefahrer und Rindbad dem Rehfahrer und Windbad dem Wehfahrer und Klindbad dem Kleefahrer und Flindbad dem Flehfahrer und Drindbad dem Drehfahrer und Schnindbad dem Schneefahrer und Gindbad dem Gehfahrer und Stindbad dem Stehfahrer und Zindbad dem Zehfahrer ….“ und so weiter.

Es geht nicht im Spazierschritt und es geht nicht in keuchendem Lauf.

Man muss l o s l a s s e n.

Denn – und DAS ist das Geniale, Mutige, Aufsehenerregende und Bewundernswerte an Joyce’s Leistung – wir haben es hier meist mit Gedanken zu tun.

Man denkt nicht in ganzen Sätzen. Schon gar nicht in langen, grammatikalisch korrekten, komplizierten oder für jeden verständlichen, mit Kommas und Nebensätzen. Oder folgerichtig.

Man denkt in Bildern und Begriffen.

Eigentlich kann man überhaupt nicht aufschreiben, wie Menschen denken. Doch Joyce ist dem Gelingen am Nächsten gekommen:

Ein innerer Monolog von beinahe 100 Seiten Länge, ohne Interpunktion, um 3 Uhr morgens, im Bett.

„… was er nicht alles am reden war von wegen du hast überhaupt keinen Beweis dass sie es war keinen Beweis mein lieber Mann ihre Tante war ganz versessen auf Austern wenn das kein aber ich hab ihr auch gesagt was ich von ihr denke dieses hinterfotzige Getue von ihm ich soll doch ruhig …“

„James Joyce hat eine Tür aufgestoßen; ich glaube, dass sie nach Freud nur noch angelehnt war. Auch dem Können dieses Iren sind natürlich Grenzen gesetzt: solche des menschlichen Gehirns und solche des Buchdrucks: man denkt ungeheuerlich schnell, man denkt auch manchmal polyphon – während ein schwerer Gedanke wie ein Glockenton in der Tiefe brummt, hüpfen oben die Affen der Assoziation auf und ab. Das kann man nicht aufschreiben. Was gemacht werden konnte, hat Joyce gemacht. Denn so sieht es in einem menschlichen Gehirn aus“, sagt Tucholsky.

Worauf es ankommt, worum es letztendlich geht, kriegt man nicht raus.

Aber das muss man auch nicht, wenn man so etwas liest:

„Auf der dunklen Mauer erscheint langsam eine Gestalt, ein schöner elfjähriger Knabe, ein Wechselbalg, gestohlen, in der Tracht der Etonboys, mit Glasschuhen und kleinem Bronzehelm; er hält ein Buch in der Hand. Er liest leise, von rechts nach links, er lächelt, küsst die Seite.

Bloom (ergriffen, ruft kaum hörbar) : Rudy!

Rudy sieht, ohne zu sehen, in Blooms Augen und liest weiter, küßt und lächelt. Er hat ein zartes, malvenfarbiges Gesicht. An seinem Anzug hat er diamantene und Rubinknöpfe. In der freien Hand hält er einen dünnen Elfenbeinstock mit violetter Schleife. Ein weißes Lämmchen guckt ihm aus der Tasche.“

Biblische Größe und erhabenste Poesie in Dreieinigkeit mit rüdestem, ordinärstem Cockney.

Das ist wahrscheinlich mehr als ein Buch. Eine Vision.

45816