Alles lecker

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Walter Kempowski, ein Meister der Sottisen, vertraute am 9. März 1991 in Nartum seinem Tagebuch an: Wegen „Sonnabend“ und „tschüs“ hassen uns die Süddeutschen. Gegen „gell“ habe ich nichts. Bei „lecker“ scheiden sich die Geister. 

Was zu der Frage führen mag, ob in Norddeutschland kein Hafer mehr wächst. Stefan Gärtner hat einmal Hafermilch probiert, die aus „lokalem Anbau“ italienischer Bio-Landwirtschaft herbeigekarrt wurde; die ist, steht auf der Packung, „für dich, für die Umwelt, für den leckeren Geschmack“. Er nimmt dann das Wort „lecker“ zum Anlass einer Analyse zeitgenössischen Sprachgebrauchs: weil sie so schön nach Kindermund und -seligkeit klingen,  sind diese zwei Silben der Konsumdemokratie zugeeignet, der wir uns tagtäglich beigeben. Akklamation ist der Grund der Terrorsprache, welche Gärtner in seinem Wörterbuch des modernen Unmenschen unter die Lupe nimmt. 

Wie wir uns (im wahrsten Sinne des Wortes) entmündigen, indem wir uns die Werbesprache zueigen machen, zeigt der Autor an weiteren Beispielen von „Alles gut“ bis „zeitnah“. Wenn ich „wir“ sage, mache ich schließlich Reklame für dieses reizvolle Buch.

Nun sage ich, denn ich bin ein Kind des Schwabenlandes, „tschüssle“ und auf Wiedersehen in meinem Buchladen, in dem ich Ihnen Gärtners Buch „gerne“ verkaufe. 

Das Gefühl meiner Winzigkeit

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Was ich lese? Hauptsächlich Naturwissenschaftliches: Gestern las ich gerade über die Ursachen des Schwindens der Singvögel in Deutschland. (Das war vor mehr als 100 Jahren schon ein Thema.) Es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden — Schritt für Schritt vernichten.

Die Autorin dieser Zeilen ist berühmt als Kämpferin für die sozialen Rechte der unterdrückten Menschen. Weniger bekannt ist, wie sehr sie alles Lebendige, in dem wir geborgen sind, bekümmert hat.

Nicht um den Gesang für den Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen, unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, dass ich weinen muss.

Ich lese Rosa Luxemburg, die heute vor 150 Jahren geboren wurde. Als Naturkundlerin begegnet sie uns in ihrem Herbarium. Sie hat Pflanzen gesammelt, wo sie ging und stand, in der Freiheit wie im Gefängnis, und damit insgesamt 16 Schulhefte gefüllt, deren Inhalt vom Karl-Dietz-Verlag kürzlich komplett veröffentlicht worden ist.

Aus dem Gefängnis schrieb sie einmal an Luise Kautsky:

Ich besuche jeden Tag ein rotes Marienkäferlein mit zwei schwarzen Punkten auf dem Rücken, und — fühle mich im ganzen nicht wichtiger als dieses Marienkäferlein und in diesem Gefühl meiner Winzigkeit unaussprechlich glücklich.

Warum Friseure öffnen können

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Jeden Abend auf dem Heimweg, lese ich in Bohumil Hrabals „Ich habe den englischen König bedient“, grübelte ich, unterhielt mich mit mir selbst, erzählte mir von neuem, was ich an diesem Tag alles gesagt oder getan hatte, und fragte mich, ob ich es richtig gesagt oder getan hatte, und ich erkannte nur das als richtig an, was mich amüsiert hatte. Darin steckt die Idee, dass die Welt, selbst wenn sie schlecht ist, mir nicht schlecht bekommen muss, dass ich also vom Verderblichen mich nicht verderben zu lassen habe.

Warum dürfen Friseure öffnen und ich nicht, klagt eine Geschäftsfrau in der Bölschestraße und unterwirft sich dem Sachzwang, den sie bekämpfen möchte.

Dem Büchermenschen, der sich in der Literatur spiegeln kann, hilft gegen die falsche Wirklichkeit die Poesie. Sie sei das Vergnügen, so Hrabal, die schönen Dinge und Geschehnisse in die Erinnerung einfließen zu lassen: denn die Schönheit neige sich und reiche immer zum Transzendenten hin, das heißt zum Endlosen und zur Ewigkeit. 

An anderer Stelle schreibt der altersweise, darum heitere Autor: Zu den geflügelten Schuhen des Lachens passt die letzte Ölung am besten.

Was für ein Glück, in einem Buchladen zu sein! Hier bin ich von den Boten der Ewigkeit umgeben.  (mehr …)

Wimmelbücher und Warnungen

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Gerade habe ich das Paket vom Gerstenberg-Verlag ausgepackt, da greift die Kundin schon zu. Ich muss die Dame allerdings warnen: in dem Frühlings-Wimmelbuch (12,90 Euro), welches Rotraut Susanne Berner mit drolligen Bildern von Menschen und Tieren ausgestattet hat, die bei schönem Wetter unterwegs sind, ihren gewohnten Tätigkeiten nachgehen und sich auch einmal zu lustigen Streichen hinreißen lassen, werden die geltenden AHA-Regeln überhaupt nicht eingehalten; da ist keine Person zu sehen, die sich die Hände wäscht, wir haben es ausschließlich mit Maskemuffeln zu tun und die Menschen bewegen sich nicht mit dem erforderlichen Mindestabstand. 

Der Verlag hat es unterlassen, einen entsprechenden Warnhinweis auf dem Buchdeckel anzubringen! Man kennt doch von anderen Produkten die schwarz umrandeten Aufkleber. 

Ist das noch der Ausnahmezustand? Der neue Duden (Dudenverlag, 28 Euro) kennt schon die Maskenpflicht.

Wir haben uns dem Corona-Regime unterworfen, was obrigkeitsstaatliche Mittel bedeutet, um der Pandemie Herr zu werden. Dann kamen die Kollateralschäden (laut Duden ein Wort aus der Militärsprache). Die Gewerbefreiheit musste beschränkt werden und das Zusammenleben der Generationen vergiftet; wenn ihr heute nicht hübsch ordentlich und fromm bleibt, wurden die Kinder bald belehrt, dann stirbt übermorgen eure Oma im Altersheim. 

Schwarze Pädagogik.

Es erstaunt mich immer wieder, wie gefragt Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter noch ist, ich habe ihn daher immer im Sortiment (Esslinger-Verlag, 8,99 Euro). 

Es fühlt sich alles falsch an. Ich weiß aber auch nicht, was das Richtige ist.

Der Humor ist noch da. Doch die Verzweiflung wächst. 

Von Föhren und Eis

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Nicht jeder kann einen weltbedeutenden Vertreter der Hochliteratur und Nobelpreisträger zugleich einen Heimat-Dichter nennen. Wir Friedrichshagener können das — mit einiger, nicht nur gefühlsmäßiger, Berechtigung — tun. Gerhart Hauptmanns wegen. Unsere schöne märkische Heimat ist es gewesen, die ihm, dem großen Naturalisten, die ersten Stoffe lieferte.

Der aus Schlesien stammende, bereits im Kindesalter als „fabulierfreudig“ bekannte Gerhard, damals noch mit d, entwickelte schon als Schüler eine Abneigung gegen Härte, Zwänge und Anforderungen seiner wilhelminischen Gegenwart. In der Realschule, die er ab 1874 in Breslau besuchte, schloss er sich einem Jünglingsbund an, der utopische Pläne zur Schaffung einer zwanglosen, freien Gesellschaftsordnung schmiedete und dessen Leitsatz „Rückkehr zur Natur!“ wohl den ersten Keim säte zur späteren Ansiedlung in unseren Gefilden. Nach begonnener Ausbildung zum Landwirt, der er körperlich nicht gewachsen war und während derer sich der junge Hauptmann ein Lungenleiden zuzog, das ihn lebenslang plagen sollte, mehrerer abgebrochener Studien und der Heirat mit der begüterten Marie Thienemann, zog er erst nach Berlin-Moabit, und endlich — auf Anraten seiner Ärzte, da er, der Lungenkranke, die Großstadtluft nicht vertrug — nach Erkner! Zurück in die Natur!  (mehr …)

Die Einbildungen

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Als ob es für einen über Achtzigjährigen ein Leichtes wäre, beugte Bohumil Hrabal sich weit aus dem Fenster, um die Vögel zu füttern, und fiel hinaus. Nein: Er ist aus dem Fenster geflogen, schrieb Péter Esterházy in seinem Nachruf auf den tschechischen Dichter. 

Und Esterházy charakterisierte Hrabal mit dem wundervollen Satz: Über das Bier und über Schopenhauer wusste er gleich viel. So heißt es bei Hrabal (übersetzt von Susanna Roth): Ein mit Firlefanz behangener, vom Jahrmarkt zurückkehrender Säufer ist nicht weniger wert als ein mit Orden und Auszeichnungen bekränzter Gelehrter, der einzig und allein das Verdienst hat, die Vergänglichkeit und Kürze des Lebens wissenschaftlich zu begründen und daraus das Postulat abzuleiten, dass man sich freuen soll, solange man dazu die Zeit hat, und ausflippen, solange es einem Spaß macht.

Worauf ich hinauswill, das ist aus dem Fenster zu rufen, was der Wiener Philosoph Robert Pfaller sagt: Alles, was Menschen große Freude macht, ist rund um ein »als ob« gebaut: Wir laden andere ein, als ob wir unendlich reich wären; wir tanzen, als ob es kein Morgen gäbe. Solchen Einbildungen glauben wir natürlich nicht, aber wir praktizieren sie augenzwinkernd. (Die Einbildungen. Das Zwiespältige. Die Geselligkeit, Picus-Verlag, 12 Euro)

Heute empfehle ich Tee. Doch bald werden die Biergärten wieder öffnen, daran glaube ich.

Zwitschern macht froh

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Eine wissenschaftliche Studie hat kürzlich den Zusammenhang zwischen der Vogelvielfalt und der Zufriedenheit der Menschen untersucht. Da in unserer Welt das Geld zählt, beziffern die Forscher des Senckenberg-Instituts für Biodiversität und Klima das Resultat ihrer Untersuchung wiefolgt: 14 Vogelarten mehr im Umfeld machen mindestens genauso zufrieden wie 124 Euro monatlich mehr auf dem Haushaltskonto, wenn man von einem durchschnittlichen Einkommen in Europa von 1237 Euro pro Monat ausgeht.

Für 10 Euro bekommen Sie ein Buch mit CD, was Ihnen mehr Glück als Verstand verspricht. Prof. Peter Berthold, hochangesehener Ornithologe und Vogelschützer, stellt darin die häufigsten einheimischen Vögel und ausgewählte seltene Arten vor, es handelt sich insgesamt um 51 verschiedene Vogelarten! Berthold erzählt interessante Fakten über jede Art und beschreibt deren Rufe und Gesänge nicht nur, sondern zwitschert die typischen Laute dazu; anschließend ist der echte Vogelgesang zu hören.

Wenn Sie sich also einen Glückszuwachs verschaffen wollen, welcher der Wirkung einer Gehaltserhöhung von 370 Euro entspricht, dann lernen Sie so gut zu zwitschern wie es die Vögel können; am besten auf dem Balkon, wenn Ihnen einer zur Verfügung steht.

Von der Quitte

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Für das Weihnachtsgeschenk, das mir dieses Jahr die schönste Freude bereitet hat, sorgte die Schwägerin: Ich bekam ein Glas selbstgemachtes Quittenmus, und die Früchte, die sie so besonders zubereitet hatte, stammten von dem Quittenbaum aus dem Garten meiner Eltern!

Die Quitte ist meine Nummer 1 unter den Früchten. Sie ist auch die Nummer 1 in mandelbaums kleinen gourmandisen, einer feinen Buchreihe, welche unbekannte Rezepte und Klassiker, Warenkunde und kochtechnische Hinweise genauso wie eine Übersicht über Herkunft und Kulturgeschichte dieser und weiterer Delikatessen bietet.

Es gibt etwas Gutes in dieser besonderen Zeit: Wir besinnen uns auf das Wertvolle, was wir haben, und erinnern uns der Schätze und Bräuche, die uns unsere Ahnen gaben.

Unsere Erwartungen an Weihnachten

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Ich bin Katholik. Eines Tages werde ich dem Papst einen Mann zur Seligsprechung vorschlagen, von dem ich weiß, dass er Wunder bewirkt hat; allein dass es ihn gibt, ist ein Wunder. Wenn Sie in Friedrichshagen wohnen, wird Ihnen seine Erscheinung wohl gegenwärtig sein.

Ich rede von Gerhard Begrich. Die Wochenzeitung DIE ZEIT sprach dieser Tage mit ihm über unsere Erwartungen an das bevorstehende Weihnachtsfest:

Begrich (Foto: DIE ZEIT) ist der Meinung, dass wir heute so schwer zur Ruhe kommen, weil uns die Muße abhandengekommen sei. „Gerade im Advent deckt eine unglaubliche Hektik die Sinnfrage zu. In unserer Angst, etwas zu verpassen, verpassen wir das Augenblicksglück und gieren nach Glücksinflation.“ Dabei gebe es das Glück des Lebens nur angesichts des Todes. Der Tod mache das Leben wertvoll. Sich darauf zu besinnen, das sei Weihnachten und vertreibe die Furcht.

Es ist der Kern des christlichen Glaubens, jeden Mitmenschen so ansehen zu können, als begegne einem Gott. So ergeht es mir immer wieder mit Gerhard Begrich  — ich vermute allerdings, dass er ein Lutheraner ist: Seine Neuübersetzungen biblischer Schriften, die im Radius-Verlag erscheinen, stehen immer wieder in den Regalen meiner Buchhandlung.

Zu Beginn dichtete Gott den Himmel und die Erde,

heißt bei ihm der Anfang der Genesis, und jeder Dichter wird diese Übersetzung loben!

Ich wünsche mir und Ihnen zu Weihnachten, dass wir uns von unseren Erwartungen nicht betrügen lassen. Mögen wir wahrnehmen, was uns augenblicklich begegnet!

Mensch Merkel

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Die Mundwinkel galten als ihr Makel. Nun trägt sie Maske. An ihren Augen sollen wir sie erkennen (Foto: dpa/Kay Nietfeld).

Merkels Augen waren groß und strahlend blau, und sie konnten abwechselnd den Ausdruck von Frustration, Belustigung und Andeutungen von Besorgnis annehmen. Andererseits spiegelte ihre stoische Art ihr nüchtern-analytisches Bewusstsein wider. Gefühlsausbrüchen stand sie bekanntermaßen misstrauisch gegenüber.

Heute erscheint das erste Erinnerungsbuch des Präsidenten Barack Obama (Penguin, 42 Euro), und das in allen großen Sprachen der Welt; sieben Übersetzerinnen haben sich bemüht, aber das Resultat entspricht nicht immer der Eleganz des Originals.

Was in der deutschen Versionen deutlich wird: Obama ist ein großer Menschendarsteller. Pointiert schildert er seine Begegenungen mit Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur, mindestens zwei Literaturnobelpreisträger sind dabei.